[ HOME ]        [ INHALTSVERZEICHNIS ]
 

 

 

 

BRUCKMANNS PROGNOSE: DER BAHN GEHÖRT DIE ZUKUNFT!

 

Ein Gespräch mit Univ.-Prof. Dr. Gerhart Bruckmann, Ordinarius für Statistik an der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien(1976).

 
 
 

Dem Mann, der uns wenige Minuten nach dem Ende eines Wahlganges in Österreich den Endstand der Mandate mit überraschender Genauigkeit prognostiziert, hat dies den Ruf eines Hellsehers und eine Popularität eingetragen, wie sie nur Film, Bühne oder Sport vergeben. Einem ernsten Wissenschafter und akademischen Lehrer, wie es Professor Dr. Gerhart Bruckmann ist, kommt eine solche Beurteilung kaum gelegen. „Ich lege Wert auf die Feststellung", beginnt er das Gespräch, „daß es sich bei der Wahlhochrechnung eher um ein persönliches Steckenpferd handelt, das mit meiner eigentlichen wissenschaftlichen Tätigkeit nur am Rande zu tun hat."

Die Idee, Hochrechnungen bei Wahlen anzustellen, kam ihm beim Abhören von Rundfunkberichten während einer Nationalratswahl. Er erkannte an den durchgegebenen Einzelresultaten einen deutlichen Trend, und es verärgerte ihn, daß die Moderatoren den jeweiligen Trend nicht kommentierten. „Ich setzte mich also hin", erläutert Professor Bruckmann, „und schrieb die Zahlen mit, analysierte sie und gab sie meinem Freund Dr. Josef Rössl von IBM weiter, der die Analyse in Computersprache übersetzte. Die Trendberechnung stimmte, und die Methode wurde dann bei der nächsten Landtagswahl in Niederösterreich 1964 und später bei der Bundespräsidentenwahl 1965 mit Erfolg von uns getestet und schließlich bei der Nationalratswahl 1966 offiziell eingeführt. Es gibt also keinerlei Zauberformel. Die ganze Sache beruht auf der durch die Erfahrung bestätigte Meßbarkeit der Veränderung des Verhaltens von Wählergruppen, so daß sich aus dem Teil aufs Ganze schließen läßt!"

Geheime Liebe zur Eisenbahn

Professor Bruckmann zählt zu den nicht wenigen Leuten in Österreich, die, wie er es formuliert, für die Eisenbahn eine geheime Liebe nähren. Es ist naheliegend, daß der Professor, entsprechend seinem Lehrfach, die Fahrpläne der österreichischen Bundesbahnen besonders attraktiv findet und sie daher gleich nach ihrem jeweiligen Erscheinen studiert, um Änderungen festzustellen. „Bestimmte Relationen, auch wenn ich sie nicht immer benütze", bemerkt er, „weiß ich auswendig. Bis vor einem Jahr gab es für mich überhaupt nur die Bahn als Verkehrsmittel. Nun, da mein Sohn in ein Alter gekommen ist, da ich ihm die Schönheit unserer Heimat auch in den kleinen Winkeln zeigen kann, habe ich mir einen "Wagen angeschafft, ohne daß ich jedoch darauf verzichten würde, größere Strecken mit der Bahn zu fahren!"

Flüge, aber nicht Züge werden abgesagt

Die Zukunft der Eisenbahn beurteilt Professor Bruckmann durchaus optimistisch, und er führt auch Beweise dafür an. „Die europäischen Eisenbahnen sind in der glücklichen Lage, daß sie nicht jenen Schrumpfungsprozeß erlitten haben, der etwa in den USA in den letzten dreißig Jahren zu beobachten war. Es hat sich nämlich herausgestellt, daß die Eisenbahn eindeutig wieder eines der Hauptverkehrsmittel der Zukunft sein wird, ja sogar sein muß."

Dem Flugverkehr, so Dr. Bruckmann, haftet insofern ein Nachteil an, als die Zugänglichkeit zu den Flughäfen zeitraubend und oft beschwerlich ist. Außerdem ist die Bahn im allgemeinen weit unabhängiger vom Wetter als das Flugzeug. „Eine Zugfahrt wird kaum abgesagt", meint Dr. Bruckmann, „Flüge müssen jedoch oft unterbleiben. Die Hauptbeanspruchung der Eisenbahn liegt vor allem auf Strecken, die der Länge einer ausgedehnten Schlafwagenfahrt entsprechen. Das ist, von Wien aus gesehen, ein Kreis, der sich von Rom über Paris nach Hamburg oder Warschau erstreckt und damit einen beträchtlichen Teil des europäischen Eisenbahnnetzes abdeckt!"

Erste Klasse — warum nicht?

Die große Chance für die Bahn besteht nach Bruckmann auch im Nahbereich, in den Ballungszentren. „Um hier der Bahn einen Markt zu sichern", meint der Professor, „könnte man einer bestimmten Bevölkerungsschichte, die auf dem Berufsweg ihr Auto aus Prestige- oder Bequemlichkeitsgründen nicht lassen kann, im Nahverkehr Wagen erster Klasse anbieten, wodurch diese Leute nicht genötigt würden, falls sie die Bahn nähmen, in überfüllte Pendlerzüge umzusteigen. Die Zahl der Leute, die dafür einen gewissen Preis zahlen würde, wäre sicher nicht klein, und den Vorteil hätte die Bahn durch zusätzliche Einnahmen! Gleichzeitig wäre damit ein wesentlicher Schritt zur Verminderung des Individualverkehrs in Ballungszentren getan!"

Auch eine sinnvolle Aufteilung des Verkehrs auf Straße und Schiene entspräche den heutigen Verkehrsgegebenheiten. Nach Bruckmann sollte die Zahl der Bahnhöfe, in denen man ein Auto mieten kann, vermehrt werden. Das System bestehe bereits, doch habe es sich noch nicht nach Wunsch durchgesetzt. „Aber je zahlreicher die Möglichkeiten angeboten werden", meint Professor Bruckmann, desto eher ist eine Bewußtseinsänderung im Publikum zu erzielen. Es gibt da einen Schwellenwert, der, einmal durchbrochen, die Methode populär und dadurch ertragreich für die österreichischen Bundesbahnen macht!" Er zitiert dann das Beispiel eines Geschäftsmannes, der mit dem Zug nach Graz fährt, dort ein Mietauto bereit findet und mit diesem seine Geschäfte in der Südsteiermark erledigt. Danach kehrt er zurück, gibt das Auto in Graz ab und fährt mit dem Zug nach Wien, wo eben Stoßzeit ist und er sich nun mit dem Auto nicht nach Hause quälen muß, sondern ein öffentliches Fahrmittel oder ein Taxi benützt.

Falsche Kostenkalkulation

Professor Bruckmann möchte nicht den Eindruck erwecken, er räume dem Auto neben der Bahn keine Chance ein. „Es ist falsch", meint er, „das Auto, wie dies so häufig geschieht, zu verteufeln. Die moderne Gesellschaft ist ohne Auto nicht mehr vorstellbar, weil unser ganzes Leben durch das Auto in eine Richtung gedrängt wurde, die uns vom Auto abhängig macht. Aber wir merken es heute schon, daß es da Grenzen gibt, wo das Auto seine Fähigkeit als optimales Transportmittel einbüßt; und wo die gegenwärtige Kostenkalkulation die tatsächlichen volkswirtschaftlichen Kosten nicht mehr widerspiegelt. So wäre es allein vom energetischen Standpunkt wesentlich kostengünstiger, Transporte zunächst auf der Straße zu einer Bahnstation zu führen, das Gut mit der Bahn zum Zielbahnhof zu führen und dort wieder auf der Straße zum Konsumenten zu bringen."

Nach Meinung Bruckmanns ist die Verzerrung der Kostenrelation eine Folge der bisherigen niedrigen Energiepreise, die vor kurzem noch niedriger waren, als sie es heute sind. Die Verschwendung von Energie, wie man sie auch jetzt noch betreibt, wird in naher Zukunft nicht mehr möglich sein.

„Nun ist es allemal klüger, einer drohenden Entwicklung vorzugreifen", meint der Professor, „indem man auf die Tatsache der Energieverknappung (sprich Verteuerung) Rücksicht nimmt und durch geänderte Arbeitsteilung die Schwierigkeiten erst gar nicht eintreten läßt. Hier erwächst dem Politiker die Aufgabe, eine Bewußtseinsänderung in der Bevölkerung zu bewirken!"

Kein graues Männlein

Das Interesse Professor Bruckmanns für die Eisenbahn und im weiteren Sinn für das gesamte Verkehrswesen kommt nicht von ungefähr. „Im Hauptberuf bin ich Professor für Statistik an der Universität Wien. Statistik bedeutet heute keineswegs das, was sich Laien darunter vorstellen: graue Männlein hinter Zahlenbergen! Statistik ist ein zahlenmäßiger Spiegel der Wirklichkeit, dem ausgeklügelte Methoden zugrunde liegen, wie zum Beispiel in der Markt- und Meinungsforschung. Aber in den letzten Jahren ist mein Interesse zunehmend auf Fragen der Langfristanalysen gerichtet, auf Planung komplexer Systeme, ein Gebiet, auf dem, über die Methodik hinaus, sehr viel Sachwissen und Urteilsvermögen verlangt wird!" Nicht zuletzt deswegen ist Professor Dr. Bruckmann auch Vorsitzender der österreichischen Gesellschaft für langfristige Entwicklungsforschung und Direktor des Instituts für sozio-ökonomische Entwicklungsforschung der Akademie der Wissenschaften. „Hier versuchen wir", erläutert er, „das Geschehen in Österreich auf dem Gebiet der Gesundheit und der Bildung modellmäßig, das heißt in neuen Zusammenhängen, darzustellen.

Weltweites Verkehrsmodell

In globaler Sicht gibt es sogenannte Weltmodelle, in denen die Verflechtung allen Geschehens, etwa auf

dem Gebiet der Wirtschaft, des Verkehrs, auch der Ökologie und der Energie, in eine mathematische Gleichungsform gebracht wird. Der Sinn solcher Weltmodelle besteht darin, über die nationalen Grenzen hinaus aufzuzeigen, welche Änderungen in den Verhaltensweisen der Menschen vor sich gehen können und wie solche Änderungen auf das eigene nationale Sein zurückwirken." Das erste Weltmodell dieser Art waren die berühmten „Grenzen des Wachstums", und 1976 wird das erste spezialisierte Weltmodell einer holländischen Gruppe vorliegen, das sich mit der Welternährung befaßt und die weltweite Verflechtung von Agrarproduktion, Handel und Verbrauch darstellt. Nach Professor Bruckmann wäre es denkbar und vor allem aufschlußreich, die weltweiten Verkehrsverflechtungen in einem global gültigen Modell darzustellen."

Der Zug kam nicht mehr zurück

Damit sind wir wieder bei der Eisenbahn, die in einem solchen Modell sicher eine dominierende Rolle spielen wird. Der Statistiker Professor Dr. Bruckmann ist also kein „graues Männlein, das hinter Zahlenbergen sitzt", sondern ein wirklichkeitsnaher, vitaler Mensch, der als akademischer Lehrer die Herzen der Studenten leicht gewinnt (und möglicherweise auch ihr Lerninteresse). Während seiner Studentenzeit war er „Pendler" gewesen, da er die ersten vier Semester in Graz studierte, aber in Klagenfurt wohnte. Damals — 1949 bis 1951 — mußten die Züge, die von Klagenfurt nach Bruck an der Mur einfuhren, auf einem hinteren Gleis auf die Brücke hinausgeschoben werden, von wo sie dann nach einer „M"-Bewegung nach Graz weiterfuhren.

„Es war für die älteren Semester ein Spaß, die Neuankömmlinge auf ein Bier einzuladen und sie damit zu erschrecken, daß man ihnen sagte, der Zug fahre eben weg, und dabei zu verschweigen, daß er wieder zurückkommt. Ich war dann einmal Zeuge einer solchen Szene, wo der Gefoppte dem Zug nacheilte, der Fopper lachend zurückblieb. Wenn er keinen anderen Weg gefunden hat, steht er heute noch dort, denn der Zug kam diesmal nicht zurück, da inzwischen die aufwendige „M"-Bewegung nicht mehr notwendig war und der Zug nach Graz weiterfuhr!"

Über das Defizit

Professor Dr. Bruckmann hat eine ausgewogene Meinung über das Defizit der Bundesbahnen. „Es gibt da eine negative und eine positive Seite", urteilt er. „Vielleicht ließe sich manches einsparen und weniger kostenaufwendig machen — vielleicht, sage ich. Andererseits ist der größte Teil des Defizits darauf zurückzuführen, daß die Tarife der österreichischen Bundesbahnen aus volkswirtschaftlichen Gründen absichtlich niedrig gehalten sind, daß es aber richtig ist, in diesem Fall einen scheinbaren Zuschuß der öffentlichen Hand zu leisten. Scheinbar deshalb, weil hier eine volkswirtschaftliche Rentabilität dazukommt, die sich nicht direkt in den Kosten niederschlagen kann, wenn diese künstlich niedrig gehalten sind. Ich halte es auch für falsch, Nebenbahnen einzustellen, so sehr dies auch das Betriebsergebnis der österreichischen Bundesbahnen unmittelbar verbessern mag. Diese Einstellung erscheint mir deshalb falsch, weil hier die volkswirtschaftlichen Kosten, die man schwer auf Heller und Pfennig berechnen kann, sehr stark ins Gewicht fallen!"

Der Mann, der uns wenige Minuten nach einem Wahlgang den Endstand der Mandate verblüffend genau prognostiziert, ist also, wir sagten es schon, kein Hellseher oder gar Prophet. Wenn er da und dort den Schleier, der über unserer Zukunft liegt, lüftet, dann tut er es mit den wissenschaftlichen Instrumentarien der Mathematik und Statistik. Er kann und möchte weder das Geschick der Menschen lenken noch ihr Schicksal. Er hält ihnen bloß einen Spiegel vor. Auf daß sie sich besser erkennen mögen.

Das ist die ganze Philosophie der Wissenschaft der Statistik

 

Aus: ÖBB-Journal 6/76, S. 49 ff.