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POSTSKRIPTUM NACH EINEM VIERTELJAHRHUNDERT

 

Wenn man nach jahrzehnten zu einer, sei es kleinen, wissenschaftlichen arbeit zurückkehrt, in der man nicht nur diagnostiziert, sondern auch prognostiziert hat, stellt sich doch eine gewisse überraschung ein. Ein dutzend bücher und hundert aufsätze später (wenn auch mehrheitlich zu anderen themen) erscheinen einige abweichungen von den erwartungen von früher ziemlich deutlich.

Beispielsweise habe ich geschrieben, transportgeschichte sei die kommende disziplin... Nun, in manchen sprach- und kulturbereichen ist sie tatsächlich zu einer geachteten und voll akzeptierten geworden. Die situation in der deutschsprachigen sphäre täuscht allerdings darüber hinweg und ergibt alles in allem ein ziemlich frustrierendes bild. (Was mich selbst betrifft, habe ich einige weitere arbeiten zu diesem bereich vorgelegt, die allerdings ziemlich ohne echo geblieben sind.(1) Von den österreichischen forschern ist besonders Georg Rigele hervorzuheben, dessen einschlägige publikationen, von hervorragender qualität, theoretische profundität mit superber quellenarbeit verbinden.(2)

In den USA vor allem hat sich transportgeschichte gar nicht so sehr, wie zu befürchten gewesen ist, auf sehr orthodoxe weise zu einer subdisziplin mit klassischem quellenkanon herausgebildet, sondern ist, als teil der materiellen kulturgeschichte, ins gesamtfeld integriert und gehört zu jenen sektoren, die die meisten modernen und innovierenden inputs liefert. Besonders sticht im rückblick ein schon vor zwanzig Jahren erschienenes buch über die gegenseitige durchdringung von stadt und umland in den USA hervor.(3) Die meisten der nachfolgenden bücher weisen nicht den nämlichen standard auf, doch ist eine deutlich wahrnehmbare traditionslinie geschaffen, die aus der, wenn man so will, materiellen kulturgeschichte eines der auf- und anregendsten gebiete überhaupt macht.(4)

Theoretisch anspruchsvolle, effektive einsichten vermittelnde und praktisch brauchbare studien (etwa im hinblick auf aménagement du territoire) mögen nach wie vor nicht der internationale standard sein, aber es gibt da und dort attraktive ansätze.(5) Es scheint mir indessen, daß im deutschsprachigen bereich die frühere vorherrschaft der politischen und diplomatiegeschichte zwar partiell durch andere "paradigmata" ersetzt worden ist, diese allerdings nicht nennenswert anders geriert werden; die qualitative hierarchie der quellen und der entsprechenden subdisziplinen ist davon im prinzip weithin unangetastet geblieben, es hat sich lediglich die reihenfolge ein klein wenig geändert. Technikgeschichte ist nach wie vor in gefahr, eine nebensektion auf dem einen oder anderen historikertag zu sein, und der technische aspekt ist natürlich nur einer von vielen, die von der transportgeschichte untersucht zu werden haben.

Was sich aus transportgeschichte herauslesen läßt, ist nicht nur soziale mobilität - dafür ist jene indiz und illustration, eine art konkrete metapher, sie drückt besser als so manches andere aus, nach welchen bruchlinien und isochronen und ähnlichem sich bestimmte teile einer gesellschaft entwickeln, und auf welche weise - ,transportgeschichte ist darüber hinaus kommunikation tout court. Heute erschiene es angebracht, von materieller und immaterieller kommunikation zu sprechen (internet u.ä. einerseits, konkrete verkehrsnetze andererseits).

Pragmatisch besehen mag die hauptschwierigkeit darin liegen, dass es um multidisziplinäre projekte geht - und die anzuwendenden methoden und darstellungstechniken idealiter einfühlungsvermögen, wissen und reflexionskompetenz auf verschiedenen ebenen und gebieten erforderten: vom vermögen, hochkomplexe und vielfältige zusammenhänge zu erkennen bis hin zu aparter darstellungsform. Um nur einige punkte zu nennen (Die "wunschliste" wäre länger): technikgeschichtliches wissen gepaart mit guten naturwissenschaftlichen kenntnissen, begreifen demographischer und urbanistischer daten, verständnis für politische entscheidungsprozesse "unterhalb" der grossen politik, fähigkeit, ästhetische kriterien ebenso zu berücksichtigen wie die zusammenhänge und transformationsprozesse natur/kultur, semiologische sensibilität, um die zeichenhaftigkeit des entstehenden und geschaffenen realen begreifen zu können, sowie den umstand, daß materielle und immaterielle transport- und kommunikationssysteme unmengen an bedeutung bilden, schließlich den sinn fürs symbolische, das teils bewußt gesucht, inszeniert, also umgesetzt wird, zum anderen jedoch immer auch ein unvermeidliches by-product ist.

Um es mit einem deprimierenden, katastrophalen aktuellen exempel auszudrücken: zur zerstörung der Twin Sisters wurden transportmittel benötigt, die politischen folgewirkungen des aktes sehen wir gerade in fortentwicklung (ohne dass diese in absehbarer zeit zu stoppen sein wird), symbolisch-semiotisch ist der barbarische akt eine der massivsten zäsuren der geschichte überhaupt, ohne ein hohes maß an technischem wissen wäre er nicht möglich gewesen, die urbanistischen konsequenzen (und, spezifischer, auch die verkehrstechnischen, noch weit jenseits von Manhattan) werden weit über New York hinaus und für sehr lange Zeit spürbare Folgen haben, das "aufeinandertreffen" von inkompatiblen zivilisationen (im Huntingtonschen Sinn) ist unübersehbar, die sprünge und risse (perfekt veranschaulicht durch die Kluft Frankreich-USA) innerhalb ein- und desselben, des okzidentalen, ebenso.

Ich hätte vielleicht mehr ethische hemmungen, hievon in diesem kontext zu sprechen, wenn es nicht ohnehin geschähe - und in nicht konvenabler weise. Jean Baudrillard hat in einem vielbeachteten artikel im Monde, den nicht nur ich völlig inakzeptabel, ja pueril gefunden habe, die bizarrsten und absurdesten Formeln gefunden: Der Okzident habe sich selbst den krieg erklärt und sei suizidal geworden (weil er in der position göttlicher allmacht und absoluter moralischer legitimität sei); kein todes- oder zerstörungstrieb, nicht einmal ein perverser effekt sei konstatierbar, weil die macht komplizin des zerstörungswillens gegenüber ihr selbst werde; das system mit einer gabe herauszufordern, auf die es nur die antwort des eigenen todes und zusammenbruchs gebe; und dass die gewalttat an sich völlig banal und nicht-aggressiv sein könne und erst die symbolische gewalt die singularität generiere.(6)

So möchte ich allerdings die "zusammenhänge" und ihre "philosophischen" konsequenzen nicht verstanden wissen, das wäre viel zu frivol und oberflächlich, zu prätentiös und letztlich doch nichts als hohles geschwätz. Aber da dieses "ereignis" und - ja, gewiß - seine symbolischen ebenso wie seine politischen konsequenzen nun einmal da sind (wie auch die mehr oder minder geistreichen oder blödsinnigen schriftlichen reaktionen darauf), müssen wohl auch die szientifischen konsequenzen gemacht werden.

So zynisch es klingen mag, die transportmittel sind nun einmal die träger all’ dessen, was sich hier abspielt, was sich die welt dazu vorstellt und wie es medial dargestellt wird: Von den F-117A bis zurück zur 757 des flugs 93 von UA.

 

Anmerkungen:

  1. b.: Bewegung und Beharrung. Transport und Transportsysteme in Österreich 1918-1938: Eisenbahn, Automobil, Tramway. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1994 (gemeinsam mit Peter Staudacher und Hans Lindenbaum), Roger Rabbit in Los Angeles. Zur geschichte der urbanen signaletik, exemplarisch dargelegt anhand der transportmittel, in: ÖZG 11 (2000), pp 63-91.
  1. Cf, beispielsweise: Die Wiener Höhenstrasße. Autos, Landschaft und Politik in den dreißiger Jahren, Wien: Turia & Kant, 1993; Die Großglockner-Hochalpenstraße. Zur Geschichte eines österreichischen Monuments. WUV Universitätsverlag 1998; Die Wienerwaldbahn. Das Projekt Fogowitz 1919-1938 und Vorläuferprojekte, in: Wiener Geschichtsblätter 49 (1994), pp. 15-27: Straßenbau im 20. Jahrhundert: Schlaglichter auf offenes Terrain, in: Historicum, Sommer 98, pp. 18-23.
  1. John R. Stilgoe: Metropolitan Corridors. Railroads and the American Scene. New Haven: Yale U.P., 1983.
  1. Cf, etwa: Tom Lewis: Divided Highways. Building the Interstate Highways, transforming American Life, Harmondsworth: Penguin 1997. Modellhaft für die "environmental studies" und beispielhaft für inzwischen erreichte und deren nicht mehr unterschreitbare theoretische basen, die sich mit transport history im eigentlichen sinn wesentlich überschneiden: Richard Whyte: The Organic Machine. The Remaking of the Columbia River. New York: Hill & Wang 1995.
  1. b.: Dominique Larroque, Michel Margairaz, Pierre Zembri: Paris et ses transports XIXe-Xxe siècles. Deux siècles de décision pour la vile et sa région. Paris: Ed. Recherches 2002.
  1. Le Monde, 3. November 2001. Für eine nüchterne und lakonische kritik cf. drei tage später den aktikel von Alain Minc in der nämlichen zeitung.

© Univ.-Prof. Dr. Georg Schmid 2003