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EXKURS: „WIE DIE SPINNE IM NETZ“ – DER EISENBAHNHISTORIKER DR.PETER STAUDACHER UND DAS ÖFFENTLICHE VERKEHRSSYSTEM DER SCHWEIZ. EIN INTERVIEW(2011)
 

OBEREGGER: Lieber Peter, wir kennen uns schon seit Mitte der 1990er Jahre, konkret aus Deiner Salzburger Vorlesung "Verkehrsgeschichte Österreichs". Seither sind wir noch immer in Kontakt. Was ist inzwischen aus dem Eisenbahnhistoriker Dr.Peter Staudacher geworden?
 
STAUDACHER: Vorerst einmal freue ich mich sehr, dass wir uns nach langer Zeit mal wieder treffen und Du mich zu diesem Interview eingeladen hast. Ich war dann noch eine Zeit Lehrbeauftragter am Institut für Geschichte und habe dann 1997/98 ein Masters Studium in Europäischer Integration an der University of Limerick in Irland gemacht. Ich hatte den Entschluss gefasst, mich beruflich neu zu orientieren und wollte mich zu diesem Zweck bildungsmässig etwas erweitern, vor allem in wirtschaftlichen und rechtlichen Belangen, nicht zuletzt aber auch im Bereich der internationalen Politik. Nach dem Studium folgte ein Engagement bei der Caritas Österreich in Albanien (1999). Damals gab es in Albanien tausende Flüchtlinge aus dem Kosovo und ich war als Delegierter der Caritas ein Teil im internationalen Netz der Hilfswerke, die Flüchtlingslager betreuten, Essen verteilten und medizinische Versorgung sicherstellten. Dabei lernte ich erstmals in einer wirklich fremden Kultur zu leben, die Menschen und ihre speziellen Anliegen zu respektieren und die eigenen Wertekataloge unserer westeuropäischen Kultur etwas zu hinterfragen. Damals war man übrigens vom ganzen Islam/Abendland-Diskurs (gottseidank) noch nicht so beeinflusst. Nach Albanien folgten fast 5 Jahre im Kosovo, für die Caritas Schweiz, zwei Jahre davon als Delegationsleiter. Eine sehr spannende Aufgabe, Koordination von Projekten, Personalführung, aber auch fast diplomatische Aufgaben, wenn z. B. mit der UN oder anderen Hilfswerken zu verhandeln war. Weiter ging es dann in den Iran, wo ich auch meine Frau kennenlernte, dann nach Südostasien im Zusammenhang mit der Tsunamihilfe und schliesslich über ein kurzes Engagement in Wien bei Caritas Österreich an die Geschäftsstelle der Caritas Schweiz in Luzern, wo ich seit 2007 Programmverantwortlicher für die Republik Moldau und Tschetschenien bin. Seit einigen Monate stehe ich im Ehrenamt dem Caritas Schweiz Personalverband vor, in Österreich würde man so etwas einen Betriebsrat nennen – Du siehst: vieles ist geschehen, hat sich ergeben und alles ist im Fluss. Ich bin verheiratet, wir haben zwei Buben (6 und 4 Jahre) und erwarten im November unser drittes Kind. Wir leben in der Luzerner Gemeinde Kriens, an der Endstation der Trolleybuslinie 1, direkt unter dem Pilatus, auf den ja die steilste Zahnradbahn der Welt führt.
 
OBEREGGER: Fühlst Du Dich noch als Eisenbahnhistoriker?
 
STAUDACHER: Ganz ehrlich gesagt nur noch am receiving end, sieht man von gelegentlichen Ausführungen im Freundes- und Bekanntenkreis ab, die ich mir nicht verkneifen kann, wenn das Gespräch auf Geschichte und Bahnen kommt. Dann erzähle ich aber gerne auch mal über die Schweizer Bahnen, sehr zum Staunen der Umsitzenden, dass ein Österreicher da etwas zu sagen hat.  Nein, ich lese zwar gerne darüber, schaue mir Filme zur Bahngeschichte an, lese Deine Website oder lese Spuren der  Bahngeschichte an zugemauerten Tunnelportalen mitten in der Stadt Luzern, aber ein echter Bahnhistoriker, der forscht und publiziert bin ich (leider) nicht mehr.
 
OBEREGGER: Du lebst nun also in der Schweiz. Was sagst Du grundsätzlich zum dortigen öffentlichen Netz? Wie ist es aufgebaut?

STAUDACHER: Grundsätzlich scheint das schweizerische ÖV-Netz das Paradebeispiel für ein durchdachtes, bedarfsgerechtes Netz zu sein, das dem heutigen Mobilitätsbedürfnis des kleinen 7-Millionen Landes mit der halben Fläche Österreichs ideal entspricht. Dabei ist es genauso wie andere Netze in Europa aus wirtschaftlichen und politischen Erwägungen, teilweise auch aus militärstrategischen entstanden, und ist historisch betrachtet gar nicht so speziell. Das besondere dabei ist wohl, dass es seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts nicht kleinweise reduziert, sondern seine Kapazitäten im Gegenteil erhalten und vielfach sogar ausgebaut und optimiert wurden. Dazu kamen dann noch Besonderheiten wie die flächendeckende frühe Elektrifizierung ab den 1930er Jahren. Obwohl, das würde ich nicht überbewerten, denn Elektrifizierung schützt vor Einstellung nicht, dass lässt sich an vielen Orten belegen. Ausschlaggebend ist vielmehr der politische Wille, eine nationales, regionales und lokales Netz öffentlicher Verkehrsmittel zu erhalten, zu pflegen und weiterzuentwickeln, durchaus, um ökonomischen Mehrwert zu erzielen.

Das Netz teilt sich in mehr oder weniger vier Strukturebenen. Drei davon sind die Bahnen, eine die Buslinien.  Das Hauptnetz sind die Durchmesserlinien von Ost nach West bzw. Nord nach Süd mit den Zulaufstrecken. Im Nord-Süd-Verkehr erfüllt die Schweiz ja auch noch eine wichtige Transitfunktion via Gotthard und Lötschberg. Auf diesen Linien verkehren die Züge mindestens im Stundentakt, dazwischen Regionale S-Bahnen. Daneben wird übrigens auch ein umfänglicher Güterverkehr abgewickelt, der auch schweizbezogen relevant ist. Die meisten Güter rollen übrigens nachts, unter Tags sind die meisten Strecken mit dem Personenverkehr voll ausgelastet. Die Hauptstrecken laufen von St. Gallen über Zürich nach Bern, Lausanne und weiter nach Genf. Es gibt noch parallel dazu eine Linie am Jurasüdfuss über Neuchatel/Neuenburg, die von Neigezügen befahren wird. Zwischen den Agglomeration verkehren Doppelstock-Interregios, wie z.B. Zürich-Luzern, mittlerweile im Halbstundentakt, und das sieben Tage die Woche von ca. 05 00 bis 01 00. Weiters die Hauptstrecken nach Italien, Gotthard und Lötschberg/Simplon, bald beide mit langen Basistunnels zu Hochleistungsarterien aufgewertet. Hier zeigt die Schweiz vor, was technisch, aber vor allem politisch möglich ist und setzt konsequent um.

Die zweite Strukturebene sind die zahlreichen Verbindungsbahnen zwischen Zentren, aber auch mittelgrossen Orten, Talschaften, Regionen, die durch Interregiozüge verbunden sind, und die Mobilität vieler PendlerInnen sicherstellen, aber auch für Rundfahrten, Geschäft und von Touristen genutzt werden. So kann ich von Luzern nach Genf effizient über Bern mit dem Intercity reisen, oder aber mit der Familie den Tag via Brünigbahn und MOB nach Montreux verbummeln und dort erst nach Genf weiterreisen, ob mit Bahn oder Schiff bleibt mir überlassen. Ganz speziell ist auch die Fahrt mit dem Interregio durch das Entlebuch, das westliche Luzerner Hinterland, wo im letzten Krieg der Schweiz, im Sonderbundkrieg von 1847, Luzerner und Eidgenössische Truppen aneinandergerieten. Wer Zeit hat, sollte zwischen Bern und Luzern einmal durchs Entlebuch kurven, wo die ehemaligen Swiss-Express Garnituren verkehren, allerdings mit deaktivierter Neigetechnik unter dem Emblem der BLS.

Als dritte Ebene würde ich die vielen Lokalbahnen ansprechen, die die Feinverteilung übernehmen, einige von ihnen zählen auch zu den Highlights des Schweiz Tourismus, wie die rhätische Bahn ins Unterengadin oder die Luzern-Engelberg-Bahn.

Die vierte Ebene ist dass das Postauto und die zahlreichen lokalen Buslinien, die noch immer so oft verkehren, dass Ausflüge zumeist locker ohne Auto zu bewältigen sind.

Der Nutzende des schweizerischen Bahnnetzes fühlt sich wirklich wie eine Spinne im Netz und kann sich mal behaglich langsam im Netz ausrichten und bewegen, aber auch schnell sprinten, wenn ein Termin im Nacken sitzt.

Ja klar, dann gibt es noch die hunderten Bergbahnen, die wohl noch zusätzlich die Mobilität in der dritten Dimension gewährleisten, wenn diese gewagte Metapher erlaubt sei.
 
OBEREGGER: Also konkret verläuft das wochentags wie? Wie kommst Du zur Arbeit? Wie kommt Deine Frau zur Arbeit? Wie kommen Deine Kinder in die Schule?
 
STAUDACHER: Um in die Arbeit zu gelangen nehme ich die Busse der Trolleybuslinie 1 der VBL (Verkehrsbetriebe Luzern). Diese fahren alle 5 Minuten. Da braucht man also gar keinen Fahrplan – Auch an Sonn- und Feiertagen verkehren die Busse im 10 Minuten-Takt – und das bis 01 Uhr morgens. Auch wenn ich einmal spät vom Flughafen Zürich kommen, brauche ich kein Taxi. Unser Auto nutzen wir selten, aber manchmal ist es doch praktisch, ein eigenes Fahrzeug zu haben, vor allem, wenn es etwas zu transportieren gibt. Meine Frau benutzt den Bus auch häufig, die Kinder gehen gleich bei uns im Quartier in die Schule bzw. in den Kindergarten, da braucht es gar keinen Transport.

Staudacher &. Söhne:

Copyright: Dr.Peter Staudacher

Dr.Peter STAUDACHER wurde am 9. April 1965 in Villach geboren. Im Zuge seines historischen Studiums an der Paris Lodron-Universität Salzburg beschäftigte er sich zunächst mit Eisenbahnarchäologie, später mit der Bildquellenkunde der Eisenbahn. Nach Vollendung seiner Dissertation war er von 1991 bis 1995 Assistent bei Prof.Georg Schmid. Gemeinsam mit Hans Lindenbaum publizierten beide 1994 den Band "Bewegung und Beharrung". Von 1999 bis 2007 war Dr.Staudacher in der internationalen humanitären Hilfe tätig(Balkan, Mittlerer Osten, Südostasien). Seit Ende 2007 ist er Programmverantwortlicher bei der Caritas Schweiz für Moldawien und Tschetschenien.
 
Publikationen: Eisenbahngeschichtliche Beiträge für den Raum Kärnten und Slowenien. Ein Versuch. Dipl.Arb. Salzburg 1987, Bewegungsmomente. Eine Geschichte der österreichischen Transporttechnik unter Berücksichtigung ihrer bildlichen Manifestation. Diss. Salzburg 1990., Bewegung und Beharrung. Transport und Transportsysteme in Österreich 1918-1938. Eisenbahn, Automobil, Tramway.(Mitarb.) Wien 1994., Die Geschichte des Verkehrswesens seit 1860. In: 1300 Jahre Seekirchen. Hrsg. v. Elisabeth und Heinz Dopsch. Seekirchen 1996., Die Murtalbahn. Eine kurze Geschichte einer österreichischen Schmalspurbahn. In: Reisen im Lungau. Salzburg 1998, Eine Geschichte der schweizerischen Eisenbahnen auf CD-Rom. (Mitarb.) Wien/Innsbruck 1998.

 

OBEREGGER: Ihr seid besser und billiger unterwegs als die Autofahrer?

STAUDACHER: In der Schweiz ist das so. Ein eigenes Auto haben dennoch viele, aber es wird im Durchschnitt weit weniger genutzt, als zum Beispiel in Österreich. Die Jahreslaufleistung liegt in der Schweiz bei ca. 10'000 km, in Österreich bei 15'000 km, so viel ich weiss.  Mit einem Generalabonnement, eine Jahresnetzkarte für die meisten Verkehrsmittel (Zug, Bus, Schiff) kommt man günstig weg: Gerade 3'300 Schweizer Franken kosten das GA für die 2. Klasse und ermöglicht ein Jahr lang uneingeschränkte Mobilität. Wer dieses nicht besitzt hat in den meisten Fällen das Halbtax-Abonnement, für Fahrten zum halben Preis, das kosten gerade 150 Franken im Jahr. Stressfreier ist man in jedem Fall unterwegs, nutzt man den ÖV. Es gibt aber Zeiten am Tag, wo sowohl auf der Strasse als auch in den Zügen Stau und Überfüllung herrschen und selbst die erste Klasse bis auf den letzten Sitzplatz belegt ist. Da wird einem klar, dass unser Mobilitätsanspruch (auf Schiene und Strasse) an seine Grenzen stösst. Ehrlich gesagt finde ich, dass es nicht nur Vorteile hat, sind die Verkehrssysteme zu gut in Schuss. Allzuleicht machen wir den Fehler, den 24-Stunden eines Tages zu viel abverlangen zu wollen, wenn wir z. B. in Luzern wohnen, in Bern arbeiten und dann noch in Zürich an ein Sommerfest wollen, nur weil wir dadurch um Mitternacht wieder in Luzern sein können. Am nächsten Tag sitzen wir dann wieder im vollen Pendler-IC nach Bern, ab Luzern 07 00.

Generell ist Zugfahren in der Schweiz aber eine sehr gute Sache: Pünktlich, effizient und doch noch preiswert.
 
OBEREGGER: Und am Wochenende? Nützt ihr da auch das öffentliche Netz? Wohin führen Eure Ausflüge?
 
STAUDACHER: Ich gehe gern Wandern. Mein Lieblingsgebiet ist das westliche Hinterland von Luzern, das Pilatusgebiet. Abgesehen vom Gipfel des Pilatus, auf den gleich zwei Bahnen führen, ist das Bergland westlich des Pilatus sehr ursprünglich geblieben. Wegen der guten Erschliessung der Täler links und rechts des Bergrückens mit Bahnen und Buslinien, sind Überschreitungen , Almwanderungen und spontane Abstiege ins Tal (wenn das Wetter schlecht wird) einfach, denn es ist möglich von jedem Dörflein aus innerhalb einer Stunde zurückzufahren. Manchmal fahren wir den Kindern aber auch nach Zürich oder Basel in den Zoo, mit einer Seilbahn auf einen Berg oder mit den Raddampfern eine Runde auf dem Vierwaldstättersee. Ehrlich gesagt, es gibt noch so viele Destinationen, die wir noch nie besucht haben, es gibt einfach sehr viele Möglichkeiten...
 
OBEREGGER: Was sagst Du zum System in Österreich? Tut Dir da als "Villacher Eisenbahnerbub" manchmal das Herz weh?
 
STAUDACHER:
Klar, in Österreich ist das öffentliche Verkehrsnetz nicht vergleichbar. Dennoch muss ich sagen, dass es noch um vieles besser ist, als in einigen anderen EU-Ländern.  Was mich in Österreich stört, ist der Umstand, dass ohne eigenen PKW so gut wie nichts geht. Meine Eltern wohnen in der Stadt Villach, aber der Regionalbus verkehrt nur drei mal täglich von ihrer Gegend in das Stadtviertel. An Sonntagen gar nicht. Da wird dann öffentlicher Verkehr zur Farce. Schlecht finde ich auch die Schnellbuslinie von Graz nach Klagenfurt, wo die ÖBB ihre eigenen Züge konkurrenzieren oder die IC-Busse von Villach nach Venedig, die (leider) aufgrund administrativer Probleme zwischen ÖBB und FS (Trenitalia) zustande kamen.
Recht gut gefällt mir die Aufwertung der Bahnhöfe in Österreich, das bedeutet Verbesserung gegenüber früher, z. B. Innsbruck, Klagenfurt, Linz, Graz etc. Auch der Railjet ist okay, zumindest besser als die alten Eurofima-Reko-Wagen, die eigentlich aus den Siebziger Jahren stammen.

Schade ist wiederum das Ende der Regionalverbindungen, z. B. Innsbruck-Graz oder auch Graz-Linz, wie ich mitbekommen habe. Die Lokalbahnen hat es ja vielfach schon früher erwischt. Manchmal habe ich aber auch den Eindruck, dass es in Österreich keine Lobby für die Bahn gibt, so ist ja keine nennenswerte Fahrzeugindustrie mehr vorhanden. In der Schweiz gibt es den Stadler-Fahrzeugbau, der mit Nischenprodukten (S-Bahn-Garnituren) Erfolge feiert: günstige Serientriebwagen für die allerorts aufblühenden S-Bahnen. Ob nun Stadler den S-Bahn-Boom antreibt oder umgekehrt, ist wie Henne und Ei – eigentlich egal, aber es gibt das Phänomen. Für die Zürcher S-Bahn wird Stadler demnächst Doppelstockzüge liefern und ist damit bei der echt grossen Bahn dabei, spannend. So etwas gibt es in Österreich leider nicht in der Dimension. Ja und dann eben auch nicht die öffentliche Identifikation mit den Bahnen. Obwohl sicher nicht der sprichwörtliche Generaldirektor mit dem Zug zur Arbeit fährt, aber Bundesräten (Minister) im Intercity im Erstklasswagen kann man schon begegnen. So konnte ich selbst einmal Evelyn-Widmer Schlumpf (Innenministerin) beim Aussteigen aus einem IC am Zürcher Flughafen sehen. Regierung in der Eisenbahn ist seit einer Werbefahrt von Alfred Gusenbauer und seinem Kabinett nach Linz 2007 wohl Geschichte in Österreich.

OBEREGGER: Wie kommt es, dass so viele verschiedene Transportsysteme(Eisenbahn, Seilbahn, Bus) miteinander kooperieren? Interessant ist ja, dass viele Privatbahnen am Verbund beteiligt sind. Bei Privatbahn, da denkt man ja zunächst immer an "Egoismus". Fußt diese Kooperation auf einem Gesetz? Oder weiß man in der Schweiz einfach nur, dass auch mittels Kooperation "Gewinn" zu machen ist? In Österreich funktioniert ja nicht einmal die Kooperation zwischen Zug und Bus!
 
STAUDACHER: Stark vereinfacht ausgedrückt, bezahlen in der Schweiz Bund, Kantone, Gemeinden  für die Leistung der Verkehrsträger, das heisst der Bahnen und Busse. Diese Leistungsaufträge sind so ausgelegt, dass sie das Defizit, das aus dem Betrieb wegen der erbrachten Leistungen entsteht, abdecken. Fernstrecken werden eigenwirtschaftlich geführt, im Regionalverkehr zahlen Bund, Kantone und Gemeinden den SBB aber auch den anderen Bahnen und Busgesellschaften. Übrigens ist das nicht gewinnbringend, aber es existiert in der Schweiz ein politischer Wille, den gesellschaftlichen Nutzen des Systems (auch Umweltnutzen und die wirtschaftliche Umwegrentabilität) höher einzuschätzen als den rein finanziellen Abgang. Zudem arbeiten die Verkehrsgesellschaften so effizient und erbringen die Leistungen in einer solchen Qualität, dass kaum jemand dieses System in Frage stellt. Immerhin bezuschusst der Bund die SBB 2011 und 2012 mit vertraglich gesicherten rund 3,3 Milliarden Schweizerfranken (ca. 3 Mrd. EUR), darin sind aber auch Kosten für neue Fahrzeuge und Streckenmodernisierungen enthalten, so viel ich weiss. Mit dem Geld und den erwirtschafteten Leistungen muss dann aber auch das Auslangen gefunden werden. Da gibt es dann keinen Spielraum mehr, wenn es nicht reicht – es klappt aber, wie wir sehen.

Ich denke, dass in Österreich die Diskussion um die Bundesbahnen noch immer zu parteipolitisch läuft und dass das öffentliche Interesse nicht immer in vollster Seriosität vertreten wird, was ein wenig schade ist. Zudem kommt auch eine aus meiner Sicht suboptimale
Koordination zwischen den Verkehrsmitteln und auch politische Partikularinteressen, z. B einzelner Bundesländer – irgendwie der berühmte Kantönligeist, den es eigentlich in der Schweiz gar nicht wirklich gibt, aber ein wenig in Österreich ;-).
   

OBEREGGER: Bitte noch um eine Einschätzung - Also mir kommt es fast so vor, als ob man in der Schweiz im Bereich des öffentlichen Verkehrs ein "kommunistisches System" aufgezogen hätte. Das gefällt mir! Und das in einem Land, welches sich zu 100% zum Kapitalismus bekennt! Das gefällt mir noch mehr! Wie war das möglich? Ist man in der Schweiz realistischer, praktischer oder einfach geschäftstüchtiger, auch in Bezug auf die Volkswirtschaft?
 
STAUDACHER: Leider muss ich Dich enttäuschen. Die Schweiz ist ganz und gar nicht kollektiviert, zumindest nicht in der Wirtschaft. Der Schlüssel liegt wohl im Pragmatismus und in der hohen Produktivität, die das schweizerische Gesellschafts- und Wirtschaftsleben prägen. Es gibt eine ganz schlanke bürokratische Struktur und die Arbeitszeit wird allerorts optimal zu nützen gesucht. Da es kaum Leerläufe gibt, verkehren die Züge auch häufiger als anderswo und natürlich gibt es rein faktisch eine längere Wochenarbeitszeit, die hochgerechnet, die Produktivität erhöht. Zudem haben die Mitarbeitenden oft noch Zusatzaufgaben im Betrieb, die andernorts andere (oder heute niemand mehr macht). So übergibt jede/r CH-Lokführer/in der/m Kollegen/in einen sauberen Führerstand und wischt noch mit Putzwolle beim Verlassen der Lok die Aufstiegsstangen, dass der/die nächste sich nicht die Hände ölig macht. Das findet man oft in der Schweiz, die kleinen zusätzlichen Tätigkeiten, die ausgeführt werden, weil es gerade noch 5 oder 3 Minuten hat, bis der Dienst aus ist – kurz: ein hohes Arbeitsethos in allen Bereichen. Da ist man dann versucht, das Bild einer geschäftigen Werktätigenschar zu sehen, die unermüdlich zum Wohle der Gesellschaft emsig werkt. In Wahrheit wird weniger geredet und mehr getan, das merkt man auch bei den Bahnen.

Geschäftstüchtig ist die Schweiz, aber in einem leistungsorientierten Sinn. Zeit wird genutzt, immer darauf achtend, dass dies auch optimal geschieht. Also: Verbesserung von Abläufen, Nachjustieren von Prozessen, Optimieren von Synergien. Dabei gibt es aber durchaus auch den gemütlichen Teil: das Ausspannen, die Pause. Aber eben erst dann, wenn man wirklich müde ist und schon ein Stück weiter ist.

Ich muss aber auch sagen, dass die Effizienz auch stressen kann. Rechne nie mit einer Abgangsverspätung, Du wirst den Zug versäumen und auch BusfahrerInnen sind gnadenlos. Auch wenn Du noch am Automaten auf das Ticket wartest fährt er/sie pünktlich los. Na ja, der nächste Bus kommt in 5 Minuten...
 
OBEREGGER: Glaubst Du, dass es in Österreich jemals so ein Taktnetz wie in der Schweiz geben wird? So unter dem Titel "Austrotakt 21"...
 
STAUDACHER: Eigentlich nicht, vielleicht in Vorarlberg ;-) Nein, im Ernst, wir sind in Österreich zu nah dran am Autofahren und es bedürfte eines grossen Schubes in Richtung soziale Akzeptanz des ÖV, dass bei uns ÖV diejenige soziale Akzeptanz erreichen würde wie in Schweiz.  Aber ich denke, dass die Qualität der Bahnen sich im Fernverkehr steigern wird (müssen) und dass auch in den Agglomerationen das Angebot besser wird – die Salzburger S-Bahn ist da ja ein Beispiel.
Wenn wir so weit kommen, dass die Leute zwischen Wien und Salzburg – Innsbruck und Bregenz wirklich mehrheitlich Zug fahren bzw. auch zwischen Klagenfurt und Wien die Bahn das erste Verkehrsmittel wird, fände ich das schön. Im übrigen muss ich aber auch sagen, dass ich kein uneingeschränkter Fan der Mobilität bin, auch nicht, wenn sie ÖV-gestützt ist. Ich finde, dass unser heutiger Lebensstil manchmal zuviel Mobilität und Flexibilität erfordert, die uns auf die Nerven gehen kann und manchmal auch eine Zumutung darstellt, wenn wir z. B. täglich 4 Stunden für das Pendeln aufwenden, Zeit die uns für Entspannung, Familie, Kinder oder das Hobby fehlt.


OBEREGGER: Ich danke für das Gespräch!

STAUDACHER: Danke auch!

 

Copyright: Elmar Oberegger/Peter Staudacher 2011.