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BAADER UND ENSSLIN

Die Grundlagen einer brisanten Beziehung

Essai

 

I: Vorbemerkungen.

„Ja, ja, ja, diese Beziehung zwischen Baader und Ensslin,

das hatte schon eine ganz entscheidende Brisanz,

da geb‘ ich ihnen völlig recht…“.

Alfred Klaus/KHK i.R. des BKA ggü. dem Verfasser im Zuge eines Gesprächs in HAMBURG(1998).

Im Jahr 1968 wandelten die Bilder von vier eigenartigen Figuren über die deutschen Schwarzweiß-Fernsehschirme: Diese befanden sich in einem Gerichtssaal, wo sie wegen einer „Kaufhaus-Brandstiftung“ angeklagt wurden. Es handelte sich um Gudrun Ensslin, Andreas Baader, Thorwald Proll und Horst Söhnlein.

Baader und Ensslin hatten in der Tat kurz zuvor in einem Kaufhaus in Frankfurt/M. eine Brandbombe mit Zeitzünder gelegt, welche dann in der folgenden Nacht hochging.

Man tat dies aus Protest gegen den Völkermord in Vietnam. Und im Zuge des Prozesses konnte sich Ensslin nur darüber wundern, dass wegen ein paar angesengter Matratzen so viel Aufwand betrieben werde – ihr gehe es in erster Linie um die verbrannten Kinder von Vietnam! Das mit den USA, also den „Tätern“ verbündete bundesdeutsche System würde also mit zweierlei Maß messen, würde damit erneut seine ungerechte Struktur unter Beweis stellen und damit weiteren „Widerstand“ legitimieren. Für viele Zeitgenossen war diese Art des Denkens ganz und gar nicht nachvollziehbar. Besonders für den Richter nicht.

Die Linke jedoch war von dieser Tat fasziniert: Endlich hätte sich jemand getraut, eine großartige Vietnam-Aktion mit bedeutendem öffentlichen Widerhall durchzuführen. Dies war natürlich auch ganz im Sinne von Ho Chi Minh, welcher zu Beginn des Jahres 1968 seinen Sympathisanten mitgeteilt hatte:

Ho Chi Minh(1890-1969):

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Legendärer Führer der „Vietnamesischen Unabhängigkeitsbewegung“.

„Meine Freunde,

Ich sende Euch meine besten Wünsche für das Neue Jahr 1968. Wie Ihr wißt, ist kein Vietnamese jemals in die Vereinigten Staaten gekommen, um jemandem Leid zuzufügen. Doch eine halbe Million US-Truppen wurde nach Südvietnam entsandt, die samt der über 700.000 Truppen ihrer Marionetten und Satelliten alltäglich die Völker Vietnams abschlachten, ihre Städte niederbrennen und ihre Dörfer dem Erdboden gleichmachen. In Nordvietnam haben Tausende von US-Flugzeugen über 800.000 Tonnen Bomben abgeworfen, durch die Schulen, Kirchen, Krankenhäuser, Deiche in dicht besiedelten Gebieten zerstört wurden.

Die US-Regierung hat Hunderttausende junger Amerikaner gezwungen, sinnlos auf den Schlachtfeldern Vietnams zu sterben oder verwundet zu werden.

In jedem Jahr gibt die US-Regierung Milliarden von Dollars aus, die Frucht aus Schweiß und Mühsal der Bevölkerung der Vereinigten Staaten, um den Krieg gegen Vietnam zu bezahlen. Mit einem Wort, die US-Aggressoren haben nicht nur Verbrechen gegen Vietnam verübt, zugleich haben sie das Leben und die Güter von Amerikanern weggeworfen und die Ehre der Vereinigten Staaten befleckt.

Meine Freunde, indem Ihr darum ringt, die US-Regierung zu zwingen, ihre Aggression gegen Vietnam zu beenden, verteidigt Ihr die Gerechtigkeit und gleichzeitig unterstützt Ihr uns. Die Unabhängigkeit, die Freiheit und die Einheit unseres Vaterlands zu sichern, getragen vom Wunsch, in Frieden mit allen Völkern der Welt, einschließlich des amerikanischen Volks, zu leben, haben sich die Völker Vietnams geeint und im gemeinsamen Willen erhoben, gegen den imperialistischen US-Aggressor Widerstand zu leisten. Wir freuen uns über die Unterstützung von Geschwistern und Freunden in den fünf Kontinenten.(Hervorhebung d.Verf.) Wir werden siegen und damit auch Ihr.

Unser Dank gilt Euch, die ihr die Völker Vietnams unterstützt.

Ho Chi Minh, Neujahr 1968“(Aus: CLAVIER-ALBERT/CLAVIER 1984: 4).

Keiner der Beteiligten konnte zu diesem Zeitpunkt ermessen, dass Baader und Ensslin das System der BRD einst mit einem Terror überziehen würden, welcher sogar dem stets so „cool“ wirkenden Bundeskanzler Helmut Schmidt 1977 das Fürchten lehrte. 1972 waren sie zwar gefangengenommen worden, organisierten den Terror aber über Helfer und Helfershelfer weiterhin aus der Haft heraus. Gefördert wurde damit aber keineswegs die „Freiheit“, sondern vielmehr die „polizeistaatliche Tendenz“ im System der BRD.

Bundeskanzler Helmut Schmidt 1977, am Höhepunkt des RAF-Terrors:

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Um die RAF-Kader freizupressen, wurde Arbeitgeberpräsident Hanns-Martin Schleyer entführt, etwas später die Lufthansamaschine „Landshut“. Schmidts „Strategie der Härte“ führte schließlich zur nachhaltigen Schwächung der RAF.

Baader &. Co wurden mit ihrer Tat von 1968 in der linken Szene zu „Avantgardisten“ und damit Vorbildern. Söhnlein sprang jedoch in der Folge ab, Proll von Baader schließlich aufgrund „fehlender Härte“ ausgeschlossen.

Dr. Horst Herold – von 1971 bis 1981 Direktor des BKA und erfolgreichster Terrorismus-Bekämpfer innerhalb der Geschichte der BRD – erkannte die drohende innere Gefahr schon 1969 deutlich. Die außerparlamentarische Opposition(APO) hatte den politischen Kampf auf der Straße eindeutig verloren, ihre Symbolfigur Rudi Dutschke war 1968 von einem Attentäter schwer verwundet worden, „Endzeit-Stimmung“ begann sich breitzumachen. Er stellte damals – fast verständnisvoll – fest:

„Der Schwung der Bewegung ist kraft seiner inneren Schwierigkeiten gebrochen, aber man täusche sich nicht: Die Kräfte, die die Bedrückung als existentiell empfinden, werden nicht zögern, Bomben in das Bewußtsein zu schmeißen, das sich offenbar nicht anders aufbrechen läßt“(zit.b. HAUSER 1997: 195 f.).

Auch Dr. Herold wurde innerlich von den Ereignissen in Vietnam bedrückt: Als einfacher Mensch, als deutscher Bildungsbürger, als Kriegsveteran. Vor allem angesichts des Holocaust war der Vietnamkrieg in der BRD von besonderer Bedeutung. Doch aufgrund seines Alters war Herold abgebrüht genug, um nicht selbst zu verzweifeln.

Schon relativ kurze Zeit später konnte er in seiner Funktion als BKA-Direktor Bundeskanzler Willy Brandt „Terror-Bomben“ als „Beweisstücke“ vorführen.

Gudrun Ensslin(1940-1977) und Andreas Baader(1943-1977) waren die maßgeblichen Gründungsmitglieder der sogenannten „Baader-Meinhof-Gruppe“, welche ursprünglich amtlich „Baader-Mahler-Meinhof-Gruppe“ genannt wurde. Gründungsdatum: 1970. Spätere Selbstbezeichnung: „Rote Armee-Fraktion“, abgekürzt RAF. Man betrachtete sich grundsätzlich als „Bewaffneter Arm der APO“.

Logo der RAF:

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Als „Fraktion“ betrachtete man sich als „Teil eines Ganzen“, nämlich der APO, welche aber aufgrund ihrer inneren Heterogenität und grundsätzlichen Unorganisiertheit nie ein solches „Ganzes“ darstellte. Das Projekt RAF baute also auf einer „(Selbst-)Täuschung“ auf.

Dass der Name „Ensslin“ in den obigen Bezeichnungen nicht auftaucht, ist – besonders wenn man die (Vor-)Geschichte der Gruppe betrachtet – in der Tat bemerkenswert. Denn eigentlich war sie die geistig treibende Kraft hinter dem Projekt, „terroristische Gewalt“ gegen „Staat und System“ auszuüben.

Schon anlässlich der Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg durch einen Polizisten in Zivilkleidung während einer Demonstration in West-Berlin(2. Juni 1967) hatte sie anschließend voll Verzweiflung vor Gesinnungsgenossen ein entsprechendes Plädoyer gehalten. Sie rief u.a. aus:

„Dieser faschistische Staat ist darauf aus, uns alle zu töten. Wir müssen Widerstand organisieren. Gewalt kann nur mit Gewalt beantwortet werden. Dies ist die Generation von Auschwitz – mit denen kann man nicht argumentieren“(zit.b. AUST 1997: 60).

Nicht wenige Zuhörer stimmten dem voll zu und setzten es sich zum Ziel, noch in derselben Nacht Polizeikasernen zu überfallen und sich zu bewaffnen. Nach gründlicher Diskussion ließ man aber von diesem Plan wieder ab, wie der Zeitzeuge Tilmann Fichter berichtete.(s.d. AUST 1986/1: ca. 0:04 f.)

Das war die Lage im Jahr 1967: Große Worte aber kein kollektiver Mut. Große Pläne, aber keine Organisation, ferner keinerlei „Know How“.

Vor diesem Hintergrund musste natürlich jeder als höchst charismatisch erscheinen, der das Gewalt-Projekt konkret und tatsächlich angehen wollte. Andreas Baader aus München war ein solcher. Er soll die Sache schließlich ins Rollen bringen…

Baader hatte nie studiert, war jedoch hochintelligent und besaß jedoch eine stark ausgeprägte kriminell-asoziale Ader. Er war ganz anders als diese Studenten, diese grünen Jüngelchen, welche ihre Affekte im Grunde nur verbal auslebten. Die schwäbische Pfarrerstochter Ensslin war vor allem deshalb von Beginn an von ihm zutiefst fasziniert

„Good Girls like Bad Boys, that’s the Way it goes“!

Baader, der „Frauentyp“, mag im ersten Augenblick von der Attraktivität ihrer Erscheinung berührt gewesen sein und konnte sich somit wohl sofort sehr gut eine längere oder kürzere Beziehung vorstellen. 

Wie intensiv diese Beziehung einst sein soll und wie lange diese dauern sollte, ja, dass sie beide gemeinsam noch in jungem Alter in den Tod gehen würden(1977), all‘ das konnte Baader noch nicht ermessen, als er sie zum ersten Mal sah.

Diese „Beziehung“ war ganz zweifellos völlig untypisch für die damalige Zeit, in der „Unverbindlichkeit“ bzw. „Sexuelle Freiheit“ immer mehr platzgriffen – Wir erinnern uns diesbezüglich an den 68er-Slogan „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment!“

Baader und Ensslin, der Bohèmien und die Pfarrerstochter, gehörten insofern also bereits zum „Establishment“ und bildeten eine „Einheit eigener Art“ aus. Horst Mahler, das letzte überlebende Mitglied des ersten RAF-Kaders, erinnerte sich 1997 an die Bedeutung dieses Paares innerhalb der Gruppe:

„Ich weiß nicht aus meiner Sicht, was waren die Gedanken von Gudrun und was waren die Gedanken von Andreas Baader. Andreas Baader hatte ja einen Sprachfehler. Der nuschelte und war sehr, sehr schwer nur zu verstehen. Wenn er ein bißchen erregt war, war es ganz schlimm. Und Gudrun hat ihn dann immer übersetzt: Andreas sagt, Andreas meint. Ob das nun tatsächlich immer das war, was Andreas gesagt hatte oder ob sie die Autorität, oder wie auch immer, das Charisma von Andreas benutzt hat, um ihre eigenen Geschichten da durchzubringen, wage ich nicht zu entscheiden. Das war immer so eine Zweiheit, und so haben die sich eben in der Gruppe durchgesetzt.“(zit.b. BERG/SCHNIBBEN 1997: 9).

Gudrun Ensslin war für Baader, der wie gesagt nie studiert hatte, also eine Art „Schutzengel“ gegenüber den Links-Intellektellen. Aber nicht nur das: Mit ziemlicher Sicherheit hat sie ihn auch – wie eine Lehrerin – massiv an das linke Gedankengut herangeführt, welches ja an sich leicht verständlich ist – Besonders für einen hochintelligenten Menschen wie Andreas Baader. Vor diesem Hintergrund war der Comic-Liebhaber sodann auch in der Lage, eigene Reden zu halten. Horst Mahler führte 1997 dazu aus:

„Baader hatte nicht studiert, und das ganz Merkwürdige war, ich habe ihn nur Comics lesen sehen, und zwar ‚Asterix und Obelix‘. Nichts anderes. Nie irgendwie ein politisches Buch, schon gar nicht Marx, Aber in der Diskussion war er topfit. Wie die das geschafft haben, ob die Gudrun ihm das alles vermittelt hat oder ob er früher Marx gelesen hat, das weiß ich nicht. Aber er war durchaus auch theoretisch auf der Höhe der Zeit“(zit.b. BERG/SCHNIBBEN 1997: 13).

Festzuhalten ist bezüglich des „Baaderschen Wissens“ aber auch, dass er sich schon länger im APO-Milieu bewegt hatte, als er Ensslin traf. Ferner hatte er – wie wir noch sehen werden – in seiner Jugend durchaus hochwertige Literatur gelesen und auch verstanden.

Hier soll nun der Versuch unternommen werden, mittels Betrachtung der frühen Biographien von Baader und Ensslin die tieferen (psychischen) Ursachen für deren Beziehung möglichst detailliert darzustellen.

Die (kühne) Hypothese dieses Beitrages: Hätten sich Baader und Ensslin nie kennengelernt, dann wäre die westdeutsche Zeitgeschichte ab 1968 ganz anders verlaufen…

 

II: Andreas Baader – Sohn eines gut bürgerlichen Historikers…

Der Münchner Historiker Dr. Bernd Baader (geb. 08.08.1913/Bielefeld) war im Jahr 1945 als Soldat der „Deutschen Wehrmacht“ in die Gefangenschaft der „Roten Armee“ gelangt. Diese überlebte er nicht. Sein Sohn Andreas(geb. 06.05.1943/München) hatte damit sehr früh seinen Vater verloren.

Beinahe wäre auch Dr. Baader in den „Terrorismus“ abgerutscht: Als er noch Student in München war, kam er eines Tages völlig aufgelöst heim – Die Geschwister Scholl waren verhaftet worden.(s.d. STEFFAHN 1985) Angesichts dessen fasste er den Plan, in den „Widerstand“ zu gehen.

Seine Frau Anneliese(geb. 21.12.1916/Saarburg) wies ihn jedoch darauf hin, dass er damit seine Familie mit aufs Spiel setze und konnte ihn somit von seinem Vorhaben abbringen. Ihr Mann hätte damals letzten Endes doch Angst gehabt, wie sie Stefan Aust erzählte. Ferner führte sie aus: „...das macht den Unterschied zwischen den beiden aus. Andreas hatte nie Angst. Er führte alles bis zur letzten Konsequenz durch“(zit.b. AUST 1997: 24).

Frau Anneliese Baader heiratete nach dem Tod ihres Mannes nicht mehr. Ihren Sohn brachte sie zunächst bei ihrer Mutter in Thüringen unter, da die Verhältnisse im völlig zerstörten München unwirtlich und gefährlich waren. Erst im Jahr 1949 wurde der Sohn wieder nach München gebracht.(vgl. HAUSER 1997: 50)

Dort entstand wohl nicht zuletzt aus materiellen Gründen(vgl. BM-Vorbericht) eine „Haushalts-Gemeinschaft“, welche Frau Baader, deren Schwester und deren Mutter umfasste. Innerhalb dieses Kontextes soll Andreas Baader aufwachsen.

 

III: Kindheit und frühe Jugend im Haushalt „Anneliese Baader &. Co“.

Anneliese Baader berichtete Stefan Aust, dass ihr Sohn zunächst ein introvertiertes Kind gewesen sei: Er war „...ein Junge, der sich nie so leicht angepaßt hat, der immer gefragt hat, der immer nachdenklich war“(zit.b. AUST 1986/1: ca. 0:12 f.)

Auf diese Introvertiertheit ist wohl auch eine gewisse Verspieltheit zurückzuführen, welche die Mutter bewog, ihren Sohn die Grundschule für fünf Jahre besuchen zu lassen.(vgl. BM-Vorbericht)

Das Kind Andreas Baader wird also noch als nachdenklich, introvertiert und sensibel geschildert. Daneben sind aber auch bereits Streiche überliefert, welche ganz im Zeichen der Ablehnung von gesellschaftlicher Normalität stehen. Seine Mutter erzählt:

„Als Andreas sechs Jahre alt war, unternahm ich mit ihm einen Ausflug zum Starnberger See. Beim Rudern bat ich ihn, nicht ins Wasser zu springen. Andreas sprang aber doch und hielt sich paddelnd über Wasser“(zit.b. DS 24/72: 23).

Diese bewussten „Normbrüche“ nahmen schließlich vor allem in der Phase der Pubertät überhand, wie sein Onkel Michael Kröcher dem Verfasser erzählte.(s. Tel. Interview vom 07.03.98, 10 h f.)

Diese „Pubertät“, welche beim männlichen Individuum um das zwölfte Lebensjahr einsetzt, stellt innerhalb der sogenannten „sekundären Sozialisation“, welche mit der Teilnahme des Kindes an sozialen Einrichtungen (Kindergarten, Schule o.a.) beginnt(s.d. REINHOLD 1991), eine besonders sensible Entwicklungsphase dar. Sowohl Interpretation als auch soziale Bewältigung dieser Phase variieren von Kultur zu Kultur. Rolf Klima stellt deshalb unter dieser Voraussetzung fest:

„Die psychischen Merkmale, die häufig als ‚typisch‘ für die (oder gar als definierende Kennzeichen der) P. genannt werden (Stimmungsschwankungen, Nachdenklichkeit, Streben nach Erlebnistiefe, schwärmerische Suche nach sicheren Werten und Vorbildern, kritische Auseinandersetzung mit der und Protest gegen die Welt der Erwachsenen, ‚Sehnsucht‘ usw.) sind keine entwicklungsbiologisch universalen Erscheinungen, sondern in erster Linie Resultat der von einer Gesellschaft, die dem Jugendlichen ein geordnetes und sozial anerkanntes Sexualleben nicht gestattet, erzwungenen Unterdrückung des mit der Geschlechtsreifung erwachenden sexuellen Interesses“.

Der Jugendliche löst sich also im Kontext unserer Gesellschaft von seiner kindlichen Daseinsform langsam ab und steht der Welt der Erwachsenen grundsätzlich skeptisch und distanziert gegenüber. Insofern befindet er sich zwischen zwei sozialen Kontexten: Den einen hat er soeben verlassen, in den anderen soll er eindringen und sich integrieren. Diese „Integration“ wird zumeist von Exponenten der „Erwachsenenwelt“ gefördert bzw. unterstützt. So wächst der junge Mensch in die Regeln und Normen des Alltagslebens hinein.

Genau an dieser Stelle wäre nun auf eine Hypothese zu verweisen, welche von der Soziologin Marina Fischer-Kowalski entwickelt worden ist: Grundsätzlich postuliert sie für die „Nachkriegsgeneration“ in Westdeutschland die Existenz eines, „Kontroll-Lochs“, welches die Verschonung von Kindern und Jugendlichen vor den Regeln und Normen der Erwachsenenwelt bedeuten soll. Zu den Ursachen dieses Phänomens führt sie aus(1983: 61):

„Zerbombte Häuser, Abwesenheit von Vätern, die im Krieg waren oder in Kriegsgefangenschaft, regionale Mobilität (entweder als direkte Folge von Kriegseinwirkungen oder als Folge der Nachkriegsarmut, die die Leute in die Städte trieb)... Diese Umstände sollte man unter zwei Aspekten sehen: Ein Aspekt ist, daß die Mütter (und die Väter, soweit sie gegenwärtig waren) mit den Schwierigkeiten des täglichen Überlebens sehr beschäftigt waren, auch in der Mittelklasse, und keine größere Menge an Energie darauf verwenden konnten, ihre kleinen Kinder zu kontrollieren und zu ‚erziehen‘“.

Welche Gefahr dem jungen Menschen jedoch droht, wenn er von den Regeln und Normen der Erwachsenenwelt zu sehr verschont wird, beschreibt Emile Durkheim(1972: 24) sehr prägnant und eindrucksvoll, wenn er sagt:

„Es ist müßig zu glauben, daß wir unsere Kinder erziehen können, wie wir wollen. Es gibt Gebräuche, an die uns anzupassen wir verpflichtet sind. Wenn wir sie zu stark mißachten, so nehmen sie Rache an unseren Kindern. Sobald sie Erwachsene sind, sind sie unfähig, mit ihren Altersgenossen zu leben, mit denen sie nicht übereinstimmen“.

Je mehr also der Jugendliche von sozialen Normen verschont bleibt, desto mehr sinkt seine grundsätzliche Integrierbarkeit in die Gesellschaft ab. Das Tor zum „Erwachsensein“ bleibt somit versperrt. Der Jugendliche befindet sich folglich zwischen zwei Stühlen. Die – um Durkheim zu paraphrasieren – „Rache der Gesellschaft“ verursacht nun in weiterer Folge psychische Schmerzen, wodurch „Gesellschaft“ zunehmend als unerträglicher Gegner interpretiert wird. Angesichts dessen beginnt das junge Individuum alsbald, sich für jene Rache zu rächen, welche die Gesellschaft einst an ihm geübt hat. Damit beginnt ein Teufelskreis.

Die Gewalt, welche das Individuum der Gesellschaft zuteilwerden lässt, muss aber nicht unbedingt tätlicher, sondern kann auch symbolischer Natur sein. Vor diesem Hintergrund ist denn auch folgende Aussage des Filmemachers Rainer Werner Faßbinder zu verstehen, welcher sich einmal mit seinem ehemaligen Freund Andreas Baader wie folgt verglich: „Ich schmeiße keine Bomben. Ich mache Filme“(zit.b. AUST 1997:26).

Wenn wir diese eher allgemeinen theoretischen Ausführungen nun auf den konkreten Fall Andreas Baader beziehen, so lässt sich nachweisen, dass ihn seine Mutter aufgrund ihrer beruflichen Tätigkeit tatsächlich „...viel sich selbst überlassen...“(BM-Vorbericht) musste. Ferner sei er, wie seine Mutter der Autorin Dorothea Hauser mitteilte, „...ein Schlüsselkind“(zit.b. HAUSER 1997: 53) gewesen.

Andreas Baader war also tatsächlich imstande, sich sehr früh von der Kontrolle der Haushaltsgemeinschaft abzusetzen. Dazu kam noch, dass diese Gemeinschaft von vorne herein nicht danach trachtete, eine solche Kontrolle strikt auszuüben. Besonders für die Mutter bedeutete der Sohn ein kostbares Überbleibsel aus der Beziehung zu ihrem Mann, welchen sie über alles geliebt haben soll.(vgl. HAUSER 1997: 50)

 

IV: Baader – Der junge Rebell von München.

Der junge Andreas Baader soll bald alles ablehnen, was als gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten oder Regeln bezeichnet werden kann: Er lehnte die Konfirmation ab, er lehnte seine Geburtstagsfeiern ab „...und versuchte, seiner Mutter das Weihnachtsfest auszureden“(AUST 1997: 25).

Ebenso weigerte er sich einmal, folgende, alltägliche Phrase zu imitieren: Wenn Du Zahnschmerzen hast, dann wende dich an den Zahnarzt. Seine Mutter erzählt:

„Im Alter von zwölf Jahren hatte Andreas Zahnschmerzen. Ich wollte ihm Tabletten geben und mit ihm zum Zahnarzt gehen. Er lehnte es ab. Er sagte, er wolle testen, wieviel Schmerzen er ertragen könne“(zit.b. DS 24/72: 23).

Diese Reihe wäre noch fortzusetzen.

Bezüglich seiner psychischen Entwicklung wäre weiters hervorzuheben, dass Baader sich zunehmend zum starrsinnigen Gerechtigkeitsfanatiker entwickelte. Dies äußerte sich u.a. darin, dass er oftmals alles teilte, was er besaß. Einmal schenkte er sogar einem frierenden Menschen seinen Pullover. Ferner prügelte er sich oft für fremde Interessen. In Diskussionen vertrat er starr seine Meinung.(vgl. AUST 1997: 25) Er war kein Mensch des „Kompromisses“.

Wir müssen uns allerdings spätestens an dieser Stelle im Hinblick auf unseren theoretischen Hintergrund die Frage stellen, warum sich nicht alle jungen Menschen in Baaders Alter derart entwickelt haben, wo doch davon auszugehen ist, dass sie alle vom „Kontroll-Loch“ betroffen waren. Diese Frage ist nicht zu beantworten.

Angesichts der oben dargelegten Umstände könnte man annehmen, dass sich Andreas Baader hinsichtlich seiner Lebensauffassung an der zu seiner Zeit weit verbreiteten Kultur der „Halbstarken“ orientierte. In dieser Form wäre diese Auffassung aber nicht haltbar, weil es ein Spezfikum dieser Kultur ist, keine theoretische Selbstreflexion zu üben.(vgl. FISCHER-KOWALSKI 1983: 63)

Dies traf auf den jungen Baader nun überhaupt nicht zu. Er galt im bürgerlichen Sinn sogar als sehr intelligent: Bereits mit dreizehn Jahren las er das Buch „Mystik des Mittelalters von ihren antiken Ursprüngen bis zur Renaissance“ von Joseph Bernhart. Seine Mutter war damals neugierig, wieviel er von dieser eher schwierigen Lektüre denn behalten habe, befragte ihn und war positiv überrascht.(vgl. HAUSER 1997: 56)

Mit dem Alter von siebzehn Jahren plante er bereits ein Buchprojekt über bessere Erziehungsmethoden. Ferner las er Werke von Sartre, Nietzsche, Balzac, Wolfe, Chandler und verfasste Gedichte.(vgl. AUST 1997: 25) Trotzdem aber befand sich Baader, wie wir noch sehen werden, hinsichtlich seiner Lebensführung sehr oft in nächster Nähe zur Kultur der „Halbstarken“.

Mit einer solchen widersprüchlichen Persönlichkeit taten sich nun besonders die Lehrer schwer:

Während die einen in ihm einen sensiblen und intelligenten Knaben sahen und dachten, dass er wegen seiner hervorragenden Aufsätze einmal ein interessanter Schriftsteller werden würde, bekämpften ihn die anderen.

Seine schulische Laufbahn lässt sich grundsätzlich wie folgt umreißen:

Zunächst besuchte er in München ein Gymnasium, dann kam er in ein Internat in Königshofen, aus welchem er mehrmals entwichen ist. Während dieser Zeit im Internat erkrankte Baader des öfteren, was eigentlich untypisch war. Es wäre zu vermuten, dass es sich hierbei um psychosomatische Beschwerden gehandelt hat. Erst als die Mutter versprach, ihn wieder nach München zurückzuholen, gab er sich wieder Mühe im Unterricht.

In München besuchte er sodann die Privatschule „Dr. Überreiter“, welche er jedoch vorzeitig verließ. Anschließend trat er in eine private Kunstschule ein und beschäftigte sich mit Malerei und Töpferei. Im Jahr 1961 kam er schließlich an ein Münchner Aufbaugymnasium. Nach drei Monaten wurde er jedoch für untragbar erklärt und hinausgeworfen.(vgl. dazu AUST 1997: 25 f.; BM-Vorbericht)

Der Grund für diesen „Rausschmiss“ lag im Umstand, dass er ein relativ schwerwiegendes Verkehrsdelikt begangen hatte: Am 21. Januar 1961 hatte er ein Motorrad gestohlen und war mit diesem mit über 100 km/h durch den „Englischen Garten“ gerast. Im Anschluss daran wurde er zu drei Wochen Arrest verurteilt.(vgl. AUST 1997: 26; BM-Vorbericht) Die „Gesellschaft“ hatte damit zum ersten Mal intensiv Rache an ihm genommen.

Seit diesem Ereignis entfernte sich Andreas Baader immer mehr aus der bürgerlichen Wirklichkeit und wich auf deren Ränder aus. Seine Mutter hatte inzwischen die Hoffnung aufgegeben, dass er jemals das Abitur absolvieren könnte.

 

V: Baaders „Erstes politisches Erlebnis“(1962). Konsequente Abwendung von der „Bürgerlichen Gesellschaft“; Abtauchen in die Subkulturen der Großstadt.

Am 6. Juni 1962 kam es schließlich zum ersten tiefgreifenden politischen Ereignis im Leben von Andreas Baader. Seine Mutter erzählt;

„...die erste politische Äußerung von ihm … da hatten Straßensänger in München auf der Straße gesungen und das hatte einen furchtbaren Widerhall(es handelt sich hierbei um die sogenannten ‚Schwabinger Krawalle‘, Anm.d.Verf.) Und da war mein Junge dabei, wir wohnten in Schwabing damals. Und da kam er nachhause und sagte zu mir ‚Weißt du, Mutter, in einem Staat, wo Polizei mit Gummiknüppeln gegen singende junge Leute vorgeht, da ist etwas nicht in Ordnung‘“(zit.b. AUST 1986/1: ca. 0:12 f.)

Innere Einstellung und äußeres Ereignis hatten sich damals offenbar nahtlos ergänzt. Insofern, als dieses kollektive Erlebnis des 6. Juni 1962 die innere Einstellung von Baader geradezu zu legitimieren schien.

In der Folge bewegte er sich, wie bereits gesagt, an den Rändern der Gesellschaft. Er tauchte in das Münchner Nachtleben ein, wo er antibürgerliche Subkulturen wie die Homosexuellen- oder Künstlerszene gründlich kennenlernte. Dort verkehrten zu dieser Zeit auch Filmemacher wie Volker Schlöndorff oder Werner Herzog.(vgl. HAUSER 1997: 81) Damals lernte Baader offenbar den später berühmt gewordenen Filmemacher Rainer Werner Faßbinder näher kennen.

 

VI: Baaders Umzug nach West-Berlin(1963).

Im Jahr 1963 siedelte Baader gemeinsam mit seinem Vetter nach West-Berlin über.(vgl. AUST 1997: 26; BM-Vorbericht)

Es ist relativ wahrscheinlich, dass er mit diesem Schritt vor allem dem von Normen geradezu durchdrungenen Dienst in der „Bundeswehr“ entkommen wollte. Ein Wohnsitz in der „Frontstadt des Kalten Krieges“ ersparte damals ja den jungen Westdeutschen den Wehrdienst.

Sicher ist jedenfalls, dass er in West-Berlin eine Wirklichkeit vorfinden soll, welche mit seinem inneren Wesen durchaus harmonierte. Stefan Aust schreibt über das Westberlin der 60er Jahre(1997: 45):

„West-Berlin nach dem Mauerbau zog damals viele junge Westdeutsche an: Sie wollten raus aus Elternhäusern, Untermiete und engen Studentenbuden, wollten sich der Bundeswehr entziehen oder auch einfach nur in einer Stadt leben, die damals noch weit entfernt war von Gleichförmigkeit und Langeweile der wiederaufgebauten westdeutschen Städte. West-Berlin hatte einiges zu bieten: eine vielfältige Kneipen- und Kunstszene, die es so wildwüchsig in anderen Städten nicht gab, und eine Menge leerstehender Großwohnungen: Viele wohlhabende Bürger hatten Berlin nach dem Bau der Mauer verlassen. So konnte man dort eine Wohnung finden, die andernorts unerschwinglich war. Das Berliner Nachtleben kannte keine Polizeistunde und war im Verhältnis zum Westen dank Steuererleichterungen damals unvorstellbar billig“.

In diese Wirklichkeit tauchte Andreas Baader mit größtem Genuss ein. Er war knapp zwanzig Jahre alt.

 

VII: Baaders Lifestyle in West-Berlin. Geburt von Tochter „Suse“.

Baaders Lifestyle in West-Berlin erinnerte in der Tat an die den Körper betonende(vgl. dazu FISCHER-KOWALSKI 1983: 63) „Halbstarken-Kultur“:

Er schneiderte sich selbst hautenge Hosen und verweigerte das Tragen von Slips, damit, wie er sich ausdrückte, „...der Arsch und alles andere zur Geltung...“(zit.b. AUST 1997: 46) kam. Die eigenhändige Herstellung von Kleidungsstücken war übrigens ebenso signifikant für die „Halbstarken-Kultur“.(vgl. GROTHUM 1994: 194 f.)

Um das Jahr 1965 verdingte er sich kurzzeitig als Fotomodell.

Weiters griff Baader öfters zu Schminke und falschen Wimpern. Darüberhinaus benutzte er Parfüm. Diese femininen Attribute wurden von den Halbstarken vor allem zur Verspottung des „Männlichkeits-Ideals“ der damaligen Zeit benutzt.

Ferner schätzte Baader neben engen Hosen auch aufgeknöpfte Hemden, breitkrempige Hüte im  Stil des Humphrey Bogart und Koteletten im Stil von Marlon Brando, welcher zweifellos das wichtigste Idol der „Halbstarken“ dargestellt hat.(vgl. dazu GROTHUM 1994: 201 f.; AUST 1997: 46)

Baader war ferner, wie Rainer Langhans(ehemals Mitglied der „Kommune I“) erzählt

„...der absolute Frauentyp. Er war überhaupt in dem Sinne kein Mann. Ich würde sagen, er war ein Zuhältertyp. Er wußte genau, wie Frauen funktionieren, und er konnte sich ihrer bedienen und sie haben immer alles für ihn getan. Und er war dieser Typ, der wirklich eine andere Art von Mann ... darstellte, als die Studenten ... Das waren ja alles so grüne Jüngelchen ... Und er war jemand, der in dieser Frage einfach viel erwachsener war ... Wie die Leute auf dem Kiez halt sind, woher er ja kam“(zit.b. BERG/SCHNIBBEN 1997: 10).

Baader lebte also bereits das konkret aus, worüber andere nur theoretisch diskutierten. Auch das ist typisch für die Kultur der „Halbstarken“. Fischer-Kowalski schreibt: „Was die Halbstarken im Handeln ausgedrückt hatten, agierten die Studenten dann auf einer verbalen, theoretischen Ebene aus“(1983: 64)

Baader betrank sich auch sehr oft im Stil eines Humphrey Bogart. In der Zeitschrift „Der Spiegel“(2/75: 38) heißt es dazu:

„Saufen war ‚in‘, und ergo traf man … Baader in immer denselben Berliner Kneipen, wo er fünf doppelte Schnäpse auf einmal bestellte, sie hintereinander kippte, dann eine Hand mit fünf gespreizten Fingern hob und vom Wirt ‚nochmal dasselbe‘ heischte“.

Der Journalist Stefan Aust weiß ferner zu berichten, dass Baaders damaliger Spezialdrink „...aus Dolviran-Tabletten, Barbituraten und Coca-Cola...“(AUST 1997: 577) bestand.

Baader lebte zunächst innerhalb einer sogenannten „Dreiecks-Beziehung“. Die Kunstmalerin Ellinor Michel hatte zwei Männer: Erstens Andreas und zweitens Manfred. Dieses Trio zog durch die Stadt. Baader verstand es, Leute auf sich zu ziehen, zu faszinieren und zu schockieren.

Im Jahr 1965 brachte Frau Michel ein Kind zur Welt. Sie behauptete, dass Baader der Vater sei.(vgl. AUST 1997: 45 ff.)

Der Name: „Suse“.

 

VIII: Gudrun Ensslin – Eine schwäbische Pfarrerstochter.

Gudrun Ensslin kam am 15. August 1940 als viertes Kind des evangelischen Pfarrers Helmut Ensslin und dessen Frau Ilse in der schwäbischen Ortschaft Bartholomä zur Welt.

Damit war sie in eine soziale Wirklichkeit hineingeboren worden, welche von Idealen und abstrakten Begriffen wie „Friede“, „Nächstenliebe“ oder „Engagement“ durchdrungen war.

Vor diesem Hintergrund ist auch die Sympathie der Eltern für Pfarrer Martin Niemöller zu verstehen, welcher einst der nationalsozialistischen Politik äußerst kritisch gegenübergestanden war(Inhaftierung 1937, schließlich bis 1945 im KZ) und sich mit Adenauers Weltpolitik ebensowenig identifizieren konnte: Er kämpfte gegen die „Wiederbewaffnung“ und trat für eine Verständigung mit der sogenannten 2. Welt ein. Die auf dieser Grundeinstellung fußenden Gedanken wurden im Medium „Stimme der Gemeinde“ verbreitet, welches vom Ehepaar Ensslin regelmäßig gelesen wurde.(vgl. AUST 1997: 40)

Die Wirklichkeit im Pfarrhaus Ensslin war fürwahr von großer geistiger Aktivität geprägt. Der Vater – ein Nachkomme des berühmten deutschen Philosophen Hegel – zog sich oft stundenlang zurück, um zu malen. Die Mutter besaß einen Hang zur Mystik. Man besaß eine „Wirklichkeit eigener Art“, welche man innerhalb der „Burg“(AUST 1986/1: ca. 0:06) – wie die kleine Gudrun das schwäbische Pfarrhaus nannte – auslebte.

Günter Maschke, der ehemalige Schwager von Gudrun, vermittelt einen guten Eindruck von dieser „Realität“:

„Die Familie war also eine Art Festung nach außen hin. Die Außenwelt war böse und schlimm, also wurde nie aus der Festung heraus analysiert, sondern da war so eine Art Realität als Schleier von außen ... man sprach auch nicht viel über die 'soziale Lage' gewisser Schichten, man hatte eigentlich auch gar keine Ahnung, wie geht's dem ‚Proletariat‘...wenn man dann sowas hörte und las davon, dann war das doch mehr ein exotischer Schauerroman, es war mehr so ‚wie können denn diese Leute das aushalten?‘, ‚das ist ja furchtbar‘ usw. aber es hatte auch hier nichts Analytisches, ich meine man konnte mit ihr nicht frei sagen ‚Wohin geht der Trend der Automation‘ oder sowas. Das waren alles eben auch hier wieder moralische Fragen und ein Erstaunen oder ein Entsetzen, was Leute durchhalten oder was Leute aushalten müssen, wobei man da ja auch keine genauen Vorstellungen entwickeln wollte“(zit.b. AUST 1986/1: ca. 0:06-0:08):

Es handelt sich hierbei zweifellos um die Schilderung eines übersteigerten Idealismus, welcher bereits mit „institutionalisierte Alltagsflucht“ bezeichnet werden könnte.

 

IX: Frühes soziales Engagement. Der USA-Aufenthalt Ensslins(1958).

Tochter Gudrun wurde als intelligent und mutig angesehen. Weiters übte sie sich schon früh in sozialem Engagement: Sie kümmerte sich um ihre jüngeren Geschwister Johanna, Gottfried und Ruth. Ferner trat sie dem protestantischen Mädchenwerk bei und hielt im Gemeindehaus Bibelabende ab.

Im Jahr 1953 war sie sich schließlich sicher, im Besitz eines Bildungsauftrages zu sein: Sie wollte Lehrerin werden. Mit pathetischen Sätzen – welche fürwahr stark an die Diktion Hegels erinnern – erläutert sie diesen Berufswunsch in einem Lebenslauf: „Einmal ist es der Wunsch, mit an lebendigen Menschen zu arbeiten, zum anderen reines Wissen zu erwerben, selbst zu lernen und dann das Erworbene weiterzugeben, zu lehren“(DS 25/72: 68). Gudrun Ensslin besuchte damals bereits das Gymnasium in Tuttlingen, wohin ihr Vater versetzt worden war.

Noch vor der Absolvierung des Abiturs ging Ensslin im Jahr 1958 für die Dauer eines Jahres in die USA. Der Ort des Aufenthaltes war eine Methodistengemeinde in Pennsylvania. Sie besuchte dort die „Warren High School“.

Alle Leute, die sie kannten, mochten sie. Besonders schätzten sie an ihr die Eigenschaften „Schönheit“, „Klugheit“ und „Engagement“. Sie selbst konnte sich jedoch mit der Wirklichkeit ihres sozialen Umfeldes keineswegs vollends identifizieren. Wohl zum ersten Mal in ihrem Leben musste sie die Differenz zwischen heimatlicher „Burg“ und dem „Anderen“ intensiv erfahren.

So war sie z.B. davon abgestoßen, dass der Gottesdienst im Alltag zur Modeschau umdefiniert wurde. Halsketten, Edelsteine und ähnliches materielles Blendwerk hätten aber ihrer Meinung nach in der Kirche überhaupt nichts zu suchen. Sie hielt zu ihrem USA-Aufenthalt ferner schriftlich fest: „Ich war entsetzt über die politische Naivität der Amerikaner“(DS 25/72: 68).

Der Journalist Werner Kahl behauptet nun, dass Gudrun Ensslin aus den USA „...mit politischen Vorstellungen amerikanischer ‚Weathermen‘ zurückgekehrt“(1989: 20) sei. Diese Behauptung kann aber nur seiner Phantasie entsprungen sein, da sich diese terroristische Gruppierung erst im Jahr 1969 entwickelte –

Sie ging im Zuge eines Kongresses in Chicago am 18. Juni 1969 aus dem US-amerikanischen SDS(= Students for a Democratic Society) hervor. Der Name “Weathermen” wurde aus dem Lied „Subterranean Homesick Blues” von Bob Dylan entlehnt, wo es heißt: „You don’t need a weatherman to know which way the wind is blowing”. Dieser Name sollte eine Avantgarde-Position im Klassenkampf bedeuten: Es seien schließlich die eisernen „Wettermänner“ hoch oben auf den Dächern der US-amerikanischen Häuser, welche damit beginnen, sich nach der neu entstandenen Windrichtung zu drehen.(vgl. dazu HINCKLE 1971: 122 ff.; JACOBS 1970; JACOBS 1997)

Ungeachtet dessen wäre aber festzuhalten, dass Gudrun Ensslin den USA seit ihrem dortigen Aufenthalt äußerst kritisch gegenüberstand.

 

X: Rückkehr in die BRD. Die Beziehung Ensslins mit Bernward Vesper, dem Sohn des Nazi-Dichters Will Vesper.

Als Ensslin in die BRD heimgekehrt war, lebte die Familie bereits in Stuttgart-Bad Cannstadt. Der Vater hatte sich dorthin versetzen lassen.

Um das Abitur zu absolvieren, besuchte sie fortan das Gymnasium des „Königin Katharina-Stifts“. Dort fiel erneut ihre Bereitschaft zu sozialem Engagement auf. Einmal gewann sie sogar einen entsprechenden Preis. Im März 1960 bestand Ensslin das Abitur mit der Durchschnittsnote „gut“ und begann in der Folge an der Universität Tübingen ein Studium. Die erwählten Fächer waren: Germanistik, Anglistik und Philosophie.(vgl. DS 25/72: 68)

Immer, wenn die Tochter am Wochenende zur Familie heimkam, stellte sie sogleich ihre Solidarität unter Beweis: Sie „...zog den Trainingsanzug an und brachte ruckzuck die ganze Wohnung in Schuß“(vgl. DS 25/72: 69), wie die Mutter erzählte.

Im Jahr 1962 lernte Gudrun Ensslin den Studenten Bernward Vesper kennen. Dieser war der Sohn des nationalsozialistisch ausgerichteten Dichters Will Vesper. Der Sohn litt furchtbar unter dem Andenken seines Vaters. Ferner stellte er grundsätzlich einen schwierigen Charakter dar.

Für die Dauer von zwei Jahren besuchte Gudrun Ensslin die „Pädagogische Hochschule“ in Schwäbisch Gmünd.

Noch im Jahr 1962 gründete sie mit Vesper in Stuttgart den Verlag „Studio Neue Literatur“. Es wurde ein Band „gegen die Atombombe“ geplant. An diesem Punkt ihrer Biographie begann ihre Fähigkeit zu sozialem Engagement erstmals sozial relevanteren Charakter zu erlangen. Sie soll in der Folge zu einer „68er-Protestantin“ werden, ausgezeichnet durch Idealismus, Rigorismus und Reformwille.

Zum Buchprojekt merkte Ensslin an: „Ich halte diesen Band zu einem Zeitpunkt, in dem die Bundesregierung ihre Bürger an den Gedanken zu gewöhnen versucht, daß die Atombombe nicht so schlecht sei, für notwendig“(vgl. DS 25/72: 69).

Die „Spiegel-Affäre“, welche im selben Jahr stattfand, wurde angstvoll aufgenommen: Es war klar aufgezeigt worden, welche Barriere zwischen angenehmer und nicht angenehmer Information oder Meinung im Kontext des politischen Systems der BRD doch lag. Vesper sagte dazu: „Damals spürten wir zum ersten Mal die Ohnmacht derjenigen, die dem politischen Machtapparat ausgeliefert sind. Wir hatten Angst“(zit.b. AUST 1997: 43).

Das geplante Buchprojekt erschien schließlich im Jahr 1964 als Anthologie, wo Werke von Hans-Magnus Enzensberger, Oskar Maria Graf, Erich Fried, Walter Jens, Heinrich Böll, Hans Henny Jahnn, Bert Brecht und anderen Aufnahme fanden. Im Vorwort, verfasst von Bernward Vesper heißt es u.a.:

„Die in diesem Band gesammelten Arbeiten zeigen die vielfältigen Möglichkeiten, die dem Schriftsteller gegeben sind, in das Geschehen einzugreifen. Neben der harten, tatsachenstarrenden Abhandlung, der geschickt argumentierenden Rede, dem aggressiven Aufruf steht die Erzählung, der mythologisch verfremdete Text, das nur noch durch ferne Bezüge mit der konkreten Situation verbundene Gedicht. Sie tragen aber gemeinsame Züge: sie deuten das bevorstehende Schicksal individuell, zeigen nicht nur das anonyme Morden, sondern den einzelnen Tod, verlassen die kalte, nicht erschreckende Zahl, um das persönliche Grauen wachzurufen, das zur endlichen Umkehr, zur menschlichen, vernünftigen Handlung führen soll“(ENSSLIN/VESPER 1964: 8).

Gudrun Ensslin hatte inzwischen die altgriechische Sprache gelernt, das Philosophicum(Arbeit über Schopenhauer) mit „gut“ bestanden und die Dienstprüfung für Volksschullehrer abgelegt. Die Noten dieser Volksschulprüfung waren ungewöhnlich mittelmäßig ausgefallen: Durchschnittsnote war „befriedigend“. Ihre Lehrfähigkeit wurde nur mit „ausreichend“ bezeichnet.(vgl. DS 25/72: 69; AUST 1997: 42)

Nun begann Gudrun Ensslin eine Doktorarbeit über den Schriftsteller Hans Henny Jahnn zu schreiben, welchem bereits das oben genannte Buchprojekt gewidmet worden war. Das Ziel, Lehrerin werden zu wollen war damit obsolet geworden.

Die Gründe dafür sind unklar. Möglicherweise erblickte Ensslin eine tiefe Kluft zwischen dem einst empfundenen, abstrakten Wunsch, Lehrerin werden zu wollen und dem konkret erfahrenen Schulalltag. Ein Indiz dafür könnte die oben genannte, eher mittelmäßig ausgefallene Beurteilung ihrer „Lehrfähigkeit“ darstellen. Ensslin erlebte damals möglicherweise zum ersten Mal ein intensives „Frustrations-Gefühl“.

Neben der oben erwähnten Doktorarbeit stand in der Folge aber auch verstärkt die Verlagsarbeit im Zentrum ihres Interesses. Damit war der Bezugspunkt des sozialen Engagements auf lange Sicht erweitert worden: Die Mikroebene „Schule“ wurde schließlich durch die Makroebene „Gesellschaft“ vollends verdrängt.

Gudrun Ensslin versuchte in dieser Zeit offenbar auch, sich emotional von der heimatlichen „Burg“ zu entfernen: Als sie mit Vesper von einem Spanienurlaub heimgekehrt war, auf dem sie möglicherweise ihre Jungfräulichkeit verlor(Mutter Ilse gab im Jahr 1971 gegenüber dem BKA-Beamten Alfred Klaus an, dass ihre Tochter bis zum 23. Lebensjahr unberührt geblieben sei. Vgl. BM-Vorbericht) interpretierte der Vater ihre Erscheinung als „erotisiert“ und „entfremdet“. Bernward Vesper wurde in der Folge des öfteren aus dem Pfarrhaus hinausgeschmissen. Daran zeigt sich die repressive Komponente der Wirklichkeit des protestantischen Pfarrhauses sehr deutlich.

Obwohl Ilse Ensslin bestreitet, dass der Vater jemals Druck auf die Kinder ausgeübt habe, wäre dennoch darauf zu verweisen, dass der Bruder von Gudrun Ensslin gezwungen worden war, Medizin zu studieren. Das „Physikum“ habe er noch mit „sehr gut“ bestanden, bevor er Selbstmord beging.(Vgl. BM-Vorbericht).

Die Versöhnung zwischen Eltern und Liebhaber wurde schließlich durch einen formalen Akt bedingt: Im Kurhaus Stuttgart-Bad Cannstadt fand eine Verlobungsfeier statt. Eine Loslösung vom Elternhaus passierte aber dennoch nicht. Vielmehr war das Paar von der normierten Wirklichkeit der „Burg“ eingeholt worden. Bernward Vesper war nun im Pfarrhaus Ensslin ein gern gesehener Gast.

Im Jahr 1965 ging Gudrun Ensslin gemeinsam mit Bernward Vesper nach West-Berlin. Sie hatte ein Stipendium erhalten. Gemeinsam mit ihrem Verlobten schrieb sie sich an der FU ein.(vgl. DS 25/72: 70)

 

XI: Ensslin und Vesper in West-Berlin(ab 1965). Politische und private Frustrationen. Geburt des Sohnes „Felix“(1967).

Gudrun Ensslin und Bernward Vesper waren bereits kurz nach ihrer Ankunft in West-Berlin politisch tätig. Man engagierte sich im Rahmen des „Berliner Wahlkontors der Schriftsteller“ für die SPD.

Dieses Engagement war von Idealismus durchdrungen: Vesper arbeitete oft zwanzig Stunden am Tag und verdiente pro Stunde nur zehn DM. Gudrun Ensslin stellte Wahlkampfmaterialien zusammen und ordnete Zeitungsausschnitte. Sie wurde als gute Kollegin und Mitarbeiterin geschätzt.

Der Tag der Wahl brachte schließlich ein großes „Frustrations-Erlebnis“ mit sich: Die Weichen für eine „Große Koalition“ waren gestellt worden.(vgl. DS 25/72: 70) Gudrun Ensslin kommentierte:

„Wir mußten erleben, daß die Führer der SPD selbst Gefangene des Systems waren, die politische Rücksichten nehmen mußten auf die wirtschaftlichen und außerparlamentarischen Mächte im Hintergrund“(zit.b. AUST 1997: 43).

Bundeskanzler wurde damals der ehemalige Nazi Kurt Georg Kiesinger, der ehemalige Anti-Nazi Willy Brandt sein Vize. Brandt hatte sich längst ohne Murren dem „System BRD“ – welches bereits von ehemaligen Nazis durchsetzt war – zur Verfügung gestellt. Kiesinger war damals bei weitem nicht die einzige politisch bedenkliche Figur. Weitere Namen: Reinhard Gehlen(ehem. „Fremde Heere Ost“, später Vater des BND) oder Hanns Martin Schleyer(ehem. SS-Offizier, nun „Wirtschaftsboss“). Diese Reihe könnte noch fortgesetzt werden.

Ermöglicht wurde diese Infiltration durch einen frühen Hand-Shake zwischen ehemaligen Nazis und den USA, welche bezüglich Aufbau und Verteidigung der BRD auf deren Kompetenz nicht verzichten zu können glaubten.(vgl. dazu DOTTERWEICH 1979: 147 f.) Immerhin hatten beide ja auch denselben Feind, nämlich die UdSSR. Das vor allem verband. Es handelt sich hier ganz zweifellos um eine ziemlich zynische Art der „Entnazifizierung“, die ein ganz eigenartiges Licht auf den „Nürnberger Prozess“ warf. War alles nur Show gewesen? Diese Frage stellten sich viele Intellektuelle in der BRD. Auch Ensslin und Vesper.

Aber auch im privaten Bereich hatte Ensslin offenbar ständig mit „Frustrations-Gefühlen“ zu kämpfen: Bernward Vesper lebte in West-Berlin die – damals voll im Trend stehende – „Freie Sexualität“. Ihr bereitete dies jedoch größte psychische Probleme. In einem vom 31. März 1971 datierenden BKA-Bericht von Alfred Klaus(Betr.: Gespräch mit Beate Seiler, der ehem. Freundin Ensslins) wird dazu resumierend festgehalten: „Ihr Privatleben sei durch ihn zerstört worden, zumal er sie laufend betrogen habe“.

Ensslin war übrigens ihr ganzes Leben hindurch eine entschiedene Verfechterin der „Zweier-Beziehung“. Auch später im Untergrund rückte sie davon nicht ab und kritisierte die freizügigen Sexualpraktiken innerhalb der terroristischen Konkurrenz-Gruppe „Bewegung 2. Juni“ schärfstens.(vgl. AUST 1997: 204)

Angesichts dieser Disharmonie wäre die Frage zu stellen, warum Gudrun Ensslin die Beziehung zu Vesper nicht umgehend abgebrochen hat. Möglicherweise fühlte sie wegen der vollzogenen Verlobung eine latente Verpflichtung gegenüber dieser: Was würden nur die Eltern sagen, wenn sie plötzlich beendet würde?

Die unglückliche Beziehung zu Vesper wurde noch dazu von zwei Abtreibungen begleitet.(s.o. BKA-Bericht)

Im Jahr 1966 wurde Ensslin erneut schwanger: Diesmal wollte sie das Kind allerdings austragen. Der Grund dafür ist nicht bekannt. Die Ansicht des Vaters, welche besagt, dass es sich hierbei um ein „Wunschkind“ gehandelt habe(vgl. DS 25/72: 70) können wir wohl angesichts der problematischen Beziehung zwischen Vesper und Ensslin nicht teilen. Entweder der Vater log sich selbst an, um den „Guten Ruf“ der Familie zu bewahren, oder aber er wurde von seiner Tochter angelogen.

Zwei Monate vor der Entbindung zerbrach die Beziehung mit Vesper. Ensslin begründete diesen Bruch ganz lapidar mit folgender Aussage: „Der spinnt doch“(DS 25/72: 71)

Sohn Felix kam am 13. Mai 1967 zur Welt.

 

XII: „Freedom, Freedom…“ – Gudrun Ensslin bricht aus der bisherigen Enge ihrer Verhältnisse aus.

Gudrun Ensslin strebte fortan offenbar ganz fanatisch nach einer „Befreiung“ von jener „Wirklichkeit“, welche ihr von den Eltern aufgezwungen worden war und offenbar nur noch psychisches Unbehagen verursachte.

Als eine Manifestation dieses „Strebens nach Befreiung“ kann vor allem ihre aktive Teilnahme an dem Kurz-Sexfilm „Das Abonnement“ gelten.(vgl. DS 25/72: 71)

Die politische Lage hatte sich inzwischen kaum gebessert:

Noch immer tobte in Vietnam ein „Vernichtungskrieg“ und am 2. Juni 1967 war in West-Berlin der wehrlose Student Benno Ohnesorg erschossen worden. Prinzipien wie „Widerstand leisten“ oder „Befreiung“ gewannen immer mehr Attraktivität für Ensslin.  

Wie aber waren diese in die Praxis umzusetzen? Sie selbst war jedenfalls kein Tatmensch, sondern vielmehr idealistisch und theoretisch ausgerichtet.

Für sie sollen deshalb in der Folge „ausgeführte Taten“ oder „Tatmenschen“ besonders attraktiv werden.

 

XIII: Sommer 1967: Baader und Ensslin treffen erstmals aufeinander. Den Rest der Geschichte kennen wir…

Mit Andreas Baader traf Gudrun Ensslin erstmals im Sommer 1967 in West-Berlin zusammen:

Man rauchte Haschisch und lernte sich näher kennen. Sie war schlichtweg fasziniert von ihm. Er war ein ausgesprochener Tatmensch, welcher nicht nur über „Gegengewalt“ oder „Befreiung“ sprach, sondern beides tatsächlich auslebte.

So ließ er sich z.B. von einem seiner Vorgesetzten nicht sukzessive unterjochen, sondern schlug sofort zurück. Stefan Aust berichtet:

„Zu Beginn seiner Berliner Zeit arbeitete er kurzfristig als Praktikant bei der ‚Bild-Zeitung‘. Rausgeworfen, worden sei er...weil er betrunken, wie Tarzan an einem Kronleuchter schaukelnd, einem leitenden Redakteur mit den Füßen ins Gesicht getreten hätte. Im ‚Kleist-Kasino‘, einer traditionsreichen Schwulen-Bar, begegnete er dem Redakteur später wieder und verprügelte ihn“(AUST 1997: 45).

Geschichten dieser Art faszinierten Ensslin…

Baader war aber nicht nur ein Tatmensch. Ferner war er, wie Ensslin selbst, belesen und hochintelligent. Studiert hatte er allerdings nie. Er hatte nicht einmal das Abitur. Sie konnte damit gut leben.

Gudrun Ensslin musste dieser Mann nun vor ihrem religiösen Hintergrund wie der „fleischgewordene Widerstand“ erschienen sein: Er tat das, worüber andere nur sprachen und wurde so zum eindrucksvollen Vorbild für sie.

Noch im Jahr 1974 erklärte sie ihrer Mitkämpferin Margrit Schiller die Rolle von Baader im Kontext der Formierung der RAF :

„...Andreas, über das, was er ist, konnten wir uns bestimmen, weil er das alte(erpreßbar, korrupt usw.) nicht mehr war, sondern das neue: klar, stark, unversöhnlich, entschlossen ... weil er sich über die Ziele bestimmt“(zit.b. AUST 1997: 300).

Obwohl Baader unter anderem aufgrund seiner intellektuellen Reflexionen keinen „reinen Halbstarken“ im Sinne von Fischer-Kowalski darstellte, so lässt sich dennoch behaupten, dass in der Beziehung zwischen Baader und Ensslin die „Halbstarken-Kultur“ und die intellektualisierte „APO-Kultur“ auf unheilvolle Weise verschmolzen sind.

Den Rest der Geschichte kennen wir…

Grab von Baader, Ensslin und Raspe in Stuttgart:

WIKI GEMEINFREI

 

Quellen:

Dieser Beitrag stellt einen leicht bearbeiteten Auszug aus „E.Oberegger: Mit dem Mut der Eine Sozialgeschichte der ersten Generation der RAF/Baader-Meinhof-Gruppe (Diss. Univ. Salzburg 1999)“ dar. Orig. Titel d. Kap.: „Die ‚68er-Protestantin‘ und der ‚Halbstarke als fleischgewordener Widerstand‘. Andreas Baader und Gudrun Ensslin“.

AUST Stefan: Der Baader-Meinhof-Komplex. –Hamburg 1997(2).

AUST Stefan: TV-Doku „Baader-Meinhof“(2 Teile). –ARD 1986.

BERG Christian/Cordt Schnibben: Manuskript zur TV-Doku „Die Täter“. –NDR u.a. 1997(Im Fadenkreuz – Deutschland und die RAF 1).

BM-VORBERICHT = Klaus Alfred(KOK): Vorbericht vom 19.2.1971 in dem Ermittlungsverfahren gegen BAADER, MAHLER, MEINHOF u.a. wegen Verdachts der Teilnahme an einer kriminellen Vereinigung nach § 129 StGB u.a. Straftaten(PA A.Klaus, Hamburg).

CLAVIER-ALBERT Judith/CLAVIER Stewart(Hrsg.): The Sixties Papers. –New York 1984.

DS = „DER SPIEGEL(Hamburg)“.

DOTTERWEICH Volker: Die Entnazifizierung. In: Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. v. Josef Becker u.a. –München 1979, S. 123 ff.

DURKHEIM Emile: Erziehung und Soziologie. -Düsseldorf I972(Schule in der Gesellschaft).

ENSSLIN Gudrun/Bernward Vesper(Hrsg.): Gegen den Tod. Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe. -Stuttgart 1964.

FISCHER-KOWALSKI Marina: Halbstarke 1958, Studenten 1968: Eine Generation und zwei Rebellionen. In: Kriegskinder, Konsumkinder, Krisenkinder. Zur Sozialisationsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg, v. Ulf Preuss-Lausitz u.a. -Weinheim/Basel 1983, S.53 ff.

GROTHUM Thomas: Die Halbstarken. Zur Geschichte einer Jugendkultur der 50er Jahre. -Frankfurt/M./New York 1994.

HAUSER Dorothea: Baader und Herold. Beschreibung eines Kampfes. -Berlin 1997.

HINCKLE Warren: Guerilla – Krieg in USA. –Stuttgart 1971.

JACOBS Harold(Ed.): Weatherman. -Washington 1970.

JACOBS Ron: The Way the Wind Blew. A History of the Weather Underground. –New York 1997.

KAHL Werner: Vorsicht Schußwaffen. Von kommunistischem Extremismus, Terror und revolutionärer Gewalt. –München 1989(2).

KLIMA Roff: Pubertät. In: Lexikon zur Soziologie. Hrsg-V. Werner Fuchs-Heinritz u.a. -Opladen 1995(3), S.530.

REINHOLD 1991 = Sozialisation. In: Soziologie-Lexikon. Hrsg.v. Gert Reinhold. -München/Wien 1991, S. 545.

RABEHL Bernd: Am Ende der Utopie. Die politische Geschichte der Freien Universität Berlin. –Berlin 1988.

STEFFAHN Harald: Die Weiße Rose. -Reinbek 1985(Rohwolt-Monographien 498).

Telefonisches Interview mit Michael Kröcher vom 07.03.98, 10 h. Durchgeführt von Elmar Oberegger.

 

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