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DIE GROSSE STAUMAUER:
Für Renate Seeliger Im Ittensamerschen Familienwappen aus 1492, welches im Speisezimmer des Ittensamerschen Großgasthofes am Welser Stadtplatz hing, war auf höchst kunstvolle Weise festgehalten worden, dass man sich schon seit Jahrhunderten einerseits mit dem Metzgerhandwerk, andererseits mit Gastronomie beschäftigte: Hackstock, Kräftiger Arm, Fleischerbeil, Bierkrug… Ein Pferdekopf und ein Waggon wiesen darauf hin, dass die Ittensamers einst mittels Pferdeeisenbahn nach Wels gekommen waren, und zwar – wie im Wappen ebenfalls, allerdings eher grob und allgemein , angedeutet wurde – von Roitham aus. Die Herstellung des Ittensamerschen Anwesens am Welser Stadtplatz, also Großgasthof(mit privaten Wohnräumen), daneben Schlächterei und Metzgerei hatte 1840 begonnen und endete 1850. Der 2. Juni 1967 war ein sehr sonniger und freundlicher Tag: Um Punkt 11:55 Uhr begab sich Großvater Ittensamer gemeinsam mit seiner kleinen Enkelin Clara zum großen Speisezimmer, um gemeinsam mit ihr eine Mittagsmahlzeit – nämlich Gesurte Kochstelze mit diversen Beilagen – einzunehmen. Der Saal war leer, erinnerte an irgendwie einen Kirchenraum. Es war Ruhetag. Großvater Ittensamer hatte immer dafür zu sorgen, dass Clara ordentlich aß und sich tagsüber allgemein wohlfühlte. Ihre Mutter hatte sich mittlerweile vollends dem „Geschäft“ verschrieben und niemand fand wirklich etwas daran. Der Großvater bestellte bei der Bedienerin eine Flasche Weißwein für sich und eine Orangeade für Clara. Einst war er der größte Säufer von Wels gewesen, nun aber war er krank und müde, teils weinerlich und zeitweise sogar wunderlich. Der Alkohol, von dem er seit frühester Jugend niemals lassen konnte, hatte ihn zunächst auf höchst verführerische Weise angelockt, sodann dirigiert und gesteuert, schließlich langsam zerstört. Beim Essen gab er Clara immer wieder kleinere Bissen auf ihren Teller, und diese aß sie. Clara aß immer nur kleine Bissen. Vor einem vollen Teller hatte sie geradezu Angst. Die Ärzte und Psychologen sagten immer, dass dies demnächst oder vielleicht auch später – IRGENDWANN JEDENFALLS – „abklingen“ würde… Beim Großvater fühlte sich Clara wohl, war er doch Ersatz für Vater und Mutter, welche ständig „Im Geschäft“ waren oder sich um „Das Geschäft“ zu sorgen hatten. Besonders liebte sie die Geschichten des Großvaters, welche er immer nach reichlichem Alkoholkonsum erzählte. Sie waren teils erdacht, teils wahr. An diesem 2. Juni 1967 schenkte sich Großvater Ittensamer schließlich den Rest des Weines in sein Glas ein, leerte dieses in einem Zug, atmete dann reichlich aus, bekam kurzzeitig rote Augen, griff sich einen Zahnstocher, blickte dann ins NIRGENDWO und Clara hing schon an seinen Lippen. An diesem Tag fiel Großvater Ittensamer eine Geschichte bzw. ein Ritual ein, welche einerseits das Leben Claras zerstören soll und beinahe auch den Ittensamerschen Gesamtbesitz. Er kündigte plötzlich an, dass man eine „Flaschenpost“ zum „Priesterkönig Johannes im Orient“ absenden werde, und zwar von der Eisenbahnbrücke an der Traun aus. Die Traun mündet in die Donau, und die Donau geht bis ins Schwarze Meer, also bis in den Orient. Der Priesterkönig würde am Oststrand des Schwarzen Meeres wohnen. Sofort orderte er von der Bedienerin einen Europa-Atlas und zeigte Clara dann diese geheimnisvolle Route. Wels-Orient: Ein völlig schrankenloser Wasser-Weg! Auf die folgende kindliche Frage „WARUM &. WIESO“ antwortete der Großvater insofern, als er darauf hinwies, dass der „PRIESTERKÖNIG JOHANNES“ den „WELTFRIEDEN“ herstellen könne, wenn nur möglichst viele Menschen einen Brief mit dem entsprechenden WUNSCH an ihn absenden würden. Zum Aussehen des Priesterkönigs machte er Clara gegenüber keinerlei Angaben. Jedenfalls sei er unvorstellbar schön. Eine leuchtende und würdige Gestalt. Und so entstand dieser ERSTE FRIEDENS-BRIEF DER CLARA ITTENSAMER an den Priesterkönig Johannes, welcher – wie Großvater Ittensamer sagte – ein Zeichen habe, nämlich ein „ORIENTALISCHES DOPPELKREUZ“(= ?!). Dies wurde unter „EMPFÄNGER“ angegeben. Feierlich ging man am Nachmittag dieses 2. Juni 1967 auf die Eisenbahnbrücke und warf die Flaschenpost in die Traun. Übrigens handelte es sich hierbei um jene Weinflasche, welche der Großvater gerade am Mittagstisch ausgetrunken hatte… Alles wäre nicht so schlimm gekommen, wenn Großvater Ittensamer sich nicht dazu hinreißen hätte lassen, einen ANTWORTBRIEF an CLARA zu verfassen. Höchst geheimnisvoll gestaltete sich der Inhalt dieses Briefes. Er und Clara saßen dann oft Stunden zusammen, um den „SINN“ der Worte des Priesterkönigs zu entschlüsseln. Über Jahre ging das nun so dahin… Als Clara immer erwachsener wurde, zog sie sich immer mehr von ihrer Umwelt zurück. Auch vom Großvater. Ihrem Ritual blieb sie aber dennoch treu. Der Großvater wusste, ja, er spürte es immer, wenn sie zur Eisenbahnbrücke an der Traun aufbrach. Niemandem – nicht einmal der besten Schulfreundin – erzählte sie davon. Denn der Großvater hatte immer gesagt, dass die Hauptvoraussetzung für die dauerhafte Kommunikation mit dem Priesterkönig die Verschwiegenheit sei. Da Großvater Ittensamer sah, wie innig seine Enkelin an den Priesterkönig glaubte, konnte er sich nie entschließen, ihr die Wahrheit zu sagen. Clara war 1971 in die Welser Volksschule eingetreten, besuchte dann ab 1975 das Welser Stadtgymnasium. Im selben Jahr endete der Vietnamkrieg, was sie insgeheim zu 100% auf das Wirken des Großen Priesterkönigs zurückführte. 1975 verstarb auch der Großvater. Damit fanden naturgemäß auch die Antwortbriefe des Priesterkönigs ihr Ende. Doch sie führte dies auf eine gewisse ERSCHÖPFUNG des Priesterkönigs zurück, welche vielleicht noch Jahre andauern könne. So einen „VIETNAMKRIEG“ zu beenden, das war ja immerhin keine leichte Sache… 1983 maturierte sie mit „Sehr Gutem Erfolg“ und begann ein Studium der „Germanistik &. Anglistik/Amerikanistik“ in Salzburg. Nach dem mit Auszeichnung beendeten Studium(Titel der Diplomarbeit: „König Ludwig II. von Bayern und dessen innerlicher Bezug zu den Publikationen des US-Schriftstellers Edgar Allen Poe“) lernte sie einen gewissen Dr. Charles Williams aus dem englischen „Lake-Distrikt“ kennen, mit welchem sie sodann bald nach Kanada(Ontario) auswanderte. Später zog man in die USA, und zwar nach Little Rock, die Hauptstadt von Arkansas. Jedes Jahr kam sie heim und sendete an der „Welser Eisenbahnbrücke“ ihre Flaschenpost ab. Sie war sehr traurig darüber, ihrem Priesterkönig nicht mehr öfter schreiben zu können. Ihr Bruder starb 1990 bei einem Autounfall, ihr Vater in der Folge an gebrochenem Herzen. Am 1. Juli 1995 beschloss sie aus völlig ungeklärter Ursache spontan, mit dem Fahrrad bis zur Mündung der Traun in die Donau zu fahren. Noch nie hatte sie einen solchen Ausflug unternommen. Die Mutter empfahl ihr den schönen Radweg entlang der Traun. Fröhlich und gesund fuhr sie noch weg, winkte der Mutter noch lächelnd zu; als zutiefst kranker, gebrochener Mensch jedoch soll sie heimkehren. Als sie nämlich plötzlich die Große Mauer erblickte, mit der die Traun schon seit Jahrzehnten aufgestaut wurde, insbesondere die Gedenktafel mit der Aufschrift „Errichtet 1933/34“ sah, erbrach sie sich ganz spontan und sank schließlich schreiend und weinend zu Boden. Ein Passant entdeckte dann dieses sich wimmernd am Boden hin- und herwälzende Häufchen Elend und damit begann Claras langer Weg durch die Psychiatrie. Ihr Mann ließ sich scheiden, da sie – wie er immer sagte – nicht mehr „Dieselbe“ sei. Somit lebte sie wieder daheim, also im Ittensamerschen Anwesen. Ihre Mutter, die stets jede Schuld von sich wies, starb bald. Einer ihrer Psychiater sagte einmal am Pissoir des Psychiatrischen Krankenhauses zu seinem Kollegen: „Ja, was es nicht alles gibt. Dieses dumme, hochintelligente Ding. Bürgertum. Hat wirklich daran geglaubt, es gäbe einen Priesterkönig Johannes dort unten im Orient. Der Großvater hat sie in die Irre geführt, uns zugetrieben. Und jetzt ist unsereins gefordert. Scheiße. Mir geht das alles schon so auf die Nerven“. Er schüttelte ab und man verabredete sich zum Tennisspielen. Danach würde man zum Kegeln gehen und sich dabei mit Bier und Schnaps betrinken. Clara wurde über die Jahre zur schweren Alkoholikerin. Ein verruchtes Lokal in der Welser Altstadt, wo sich die Leute in erster Linie betranken, wurde ihr liebster Ort. Und wie jeden Abend, so nahm sie auch an diesem 15. Oktober 1997 die fast leere Weinflasche als Wegzehrung mit auf die Gasse. Das sei so „ihr Ritual“ gewesen, sagte der Kellner später. Doch an diesem Abend, so gegen 22:30 Uhr, schlug sie mit dieser Flasche einem Passanten den Schädel ein. Dieser hätte – so sagte sie später gegenüber der Polizei – von hinten ganz genauso wie der Bürgermeister von Wels ausgesehen, welchen sie in ihrem Wahn beschuldigte, die Große Staumauer errichtet zu haben. Da Clara nicht straffähig war, musste sie nicht ins Gefängnis. Am 18. Februar 1999 richtete sie sich an der Welser Eisenbahnbrücke selbst. Ihr schriftlich festgehaltener Wunsch, das Ittensamersche Anwesen in Schutt und Asche zu legen, wurde übrigens in der Folge nicht umgesetzt.
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