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ST. LAZARUS:

 

„Auch heute, den 16. November d.J. überhaupt kein Grund vorhanden, ewig nüchtern zu bleiben“, notierte Pater Benedikt von St.Lazarus in sein mittlerweile schäbig gewordenes Tagebuch, griff sodann umgehend zur großen Doppelliter-Weinflasche und schenkte sich erneut ins kleine Glas ein.

Die sommerliche Morgensonne war längst Vergangenheit geworden. Mit größter Qual hatte er sich in stockdunkler Spätherbst-Stimmung selbst am Schopf aus dem Bett gezogen, denn eine Pfarrersköchin hat er hier längst nicht mehr.

Und schon zum Frühstück trank er eben – der erfahrene Meister in diesen Belangen(!) - das weiter, was er schon die ganze Zeit zuvor getrunken hatte.

Körperlich höchst geschwächt und taumelnd richtete er alles für die sogenannte ‚Frühmesse‘ her. Leonhard, sein einziger Freund in diesem Pfarrhof, schlief noch. Er war ohnehin für diese Tätigkeiten gar nicht zu gebrauchen…

Längst hatte Pater Benedikt diese CD mit jenem „k.k. Militärmarsch“ eingelegt, ohne den er schon längst umgekommen wäre. Eine völlig inhaltslose, im Allgemeinen Gesamtzusammenhang sogar völlig verrückte „Disziplin-Stütze“. Sonst war da nichts.

Immerhin waren seine teuren Vorfahren damals unter Prinz Eugen bei der Eroberung Belgrads dabeigewesen. Er betrachtete sich sodann – umhüllt von dieser Militärmusik - nach der Einkleidung im großen Spiegel der Sakristei, nahm das Glas in die Hand und lachte plötzlich in einer Stimmung von „Befreiung“ lauthals auf. Es folgte sofort schwere innerliche Bedrückung.

Und er stutzte ebenso plötzlich: Hat das nun so ein „Irgendjemand“ gehört? Er schaute aus versteckter Position mit größter Vorsicht in den höchst weitläufigen Kirchenraum hinein. Pater Benedikt war ein fanatischer Freund der Kontenance.

Nach noch einem Glas Wein trat er schließlich hinaus und eröffnete die Messe.

Auch sein Leonhard war inzwischen erwacht, hatte sich vorsichtig bei seinem Meister vorbeigeschlichen und schließlich im Kirchenraum platzgenommen.

Seine Predigt hielt er jeden Tag vor folgendem geistlichen Hintergrund:

Wir Christen seien Menschen, und müssten tagtäglich an unserem menschlichen Ursprung abgeholt werden. Die christliche Religion sei für Jedermann ganz einfach zu verstehen – „Folget doch alle Jesus nach, und die Welt wird sich total ändern! Ja, sie wird besser werden, wenn ihr nur alle Jesus nachfolgt!“ – So der ewiggleiche Appell des Pater Benedikt von St. Lazarus.

Alle Scheußlichkeiten, die er am Vorabend – natürlich schon total betrunken - in den Nachrichten über die „Gattung Mensch“ gehört hatte, baute er jeden Morgen speziell-detailliert und mit durchaus glänzendem rhetorischem Schwung in diesen abstrakten, ewiggleichen Rahmen ein.

Die Bürger von St. Lazarus am Walde mochten ihn nicht -

Seine ständige Trinkerei war hier aber nicht das Problem, ja, diese fanden sie – zumindest anfangs - sogar höchst sympathisch, denn dieses Laster zeigte ihnen deutlich, dass er „auch nur ein Mensch“ sei: Das Problem aber waren seine Themen und der verzweifelt-penetrante Versuch, die Menschen mittels Worten zu bessern.

„Und wir Christen sind aufrechte und transparente Geschöpfe: Wir Christen beten nicht in unverständlichen Formeln wie die Ungläubigen! Wir Christen beten das für jeden glasklar verständliche ‚Pater Noster‘!“ -

Und daraufhin begann er sodann jedesmal bedächtig und geistig völlig versunken(!) das Vaterunser zu beten, in der Hoffnung, dass ihm allgemein gefolgt wird. Und dabei veränderte sich dann jedesmal der Tonfall seiner Stimme. Dieser wurde irgendwie auf ganz unbeschreibliche, ja, unheimliche Weise eigenartig, ja, seine Stimme klang nun irgendwie über-menschlich. Dies jagte den Bürgern von St. Lazarus jedesmal größte Angst ein.

Pater Noster,

Qui es in cypho;

Sanctificetur nomen tuum,

adveniat regnum tuum;

fiat voluntas tua, sicut in caelo et in terra.

Panem nostrum cotidianum da nobis hodie;

et dimitte nobis debita nostra,

sicut et nos dimittimus debitoribus nostris;

et ne nos inducas in temptationem,

sed libera nos a malo.

Quia tuum est regnum, et potestas,

et gloria in saecula.

Amen.

Jegliche Disziplinlosigkeit auf der Seite der Gläubigen – so z.B. ein Schnäuzen, ein Gerede, eine falsche Körperhaltung, ein unpassender Blick o.ä. – verbat er sich während des Gebetes strikt.

So auch an diesem Morgen:

„Du dort, du scheußlicher Schweinehund! Ja, GENAU DU dort! Setz‘ dich gerade, schau‘ aufrichtig und ehrlich! Oft glaube, ich, dass du nur ZUM FRESSEN UND SCHEISSEN auf der Welt bist, du scheußlicher Hund!“, wies er – das Gebet urplötzlich unterbrechend – den Leonhard mit scharfem und lautem Ton zurecht, welcher sich sodann wieder ordentlich hin-setzte und eine bedächtige Miene auf-setzte.

Und nach diesem Pater Noster begann Pater Benedikt dann jedesmal eine höchst hitzige - auf echte und klare Bibelzitate fußende - „Haß-Predigt“ gegen „DAS BÖSE IM ALLGEMEINEN“ und gegen „LEONHARD IM BESONDEREN“. So auch an diesem Morgen.

Am Ende der Messe ging er schließlich höchst geschwächt in die Sakristei, trank sofort ein schon zuvor hergerichtetes, großes Glas Wein in einem Zug leer und verzieh sodann dem Leonhard mit gütiger Miene, welcher hechelnd und mit dem Schwanz wedelnd vor ihm stand.

„Unser Großer Gott ist Gott sei Dank verzeihungswürdig“, sagte Pater Bernhard in diesem Moment jedesmal mit bedächtiger, wenngleich lallender, dennoch aber letzten Endes sanfter Stimme. So auch an diesem Morgen.

Denn er liebte seinen Leonhard. Er war für ihn wirklich ein „verzeihungswürdiges Wesen“. Umsomehr, als er schon seit so länger Zeit sein einziger Meßbesucher in der Kirche von St. Lazarus war.

„Die Abberufung von Pater Benedikt und dessen Einlieferung in eine Nerven-Heilanstalt ist nur noch eine Frage der Zeit“, versuchte der Bischof den Bürgermeister von St. Lazarus in einem Brief zu beruhigen. „Aber wir haben in der Diözese nun einmal kein Personal“.

Der Bürgermeister hatte ihm per Einschreiben u.a. mitgeteilt(Originalzitat, gem. dienstl. vorl. Bericht):

„…Es ist wirklich eine Schande, dass in unserer schon immer höchst katholischen Gemeinde St.Lazarus am Walde die Kirche leer bleibt. Die Jungen fahren in den Nachbarort. Selbst die Alten, die noch gehen können, gehen dort nicht mehr hin. Benedikts ‚Zwanghaftes Pater Noster-Theater‘ ist für uns als treue Katholiken ganz einfach nicht mehr hinnehmbar. Es ist geradezu eine Zumutung … Überhaupt soll Pater Benedikt seinen Hund höchst schlecht behandeln. Der Tierschutzverein wurde davon übrigens bereits in Kenntnis gesetzt…“.

Auch an diesem 16. November trank Pater Benedikt nach der stets für obligat empfundenen, zweiten Eintragung ins Tagebuch sodann für jedes verlorene Schaf ein Kleines Glas Wein und rauchte für jedes Verlorene Schaf eine Zigarette - Eben so seine völlig abstruse und letztendlich völlig nervenkranke Art zu „opfern“ -

Wie immer sank er sodann nach einer Weile zu Boden und wollte eigentlich nie wieder aufwachen –

Doch auch diesmal leckte ihn sein treuer Leonhard wieder wach…

 

Copyright: Elobert Stifter 2013.